von Inka Grabowsky, 26.04.2021
Zwischen Sucht und Sehnsucht
Im Eisenwerk zeigt das Junge Theater Thurgau das selbst erarbeitete Stück „Level up“ über die Sucht nach Computerspielen und andere Abhängigkeiten. Die Teenager unter der Leitung von Petra Cambrosio verzichten dabei auf den erhobenen Zeigefinger und auf einfache Lösungen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Die rund 20 zulässigen Plätze im Bühnenraum des Eisenwerks in Frauenfeld waren schnell ausverkauft bei der Premiere von „Level up“, dem jüngsten Projekt des Jungen Theaters Thurgau. „Wir freuen uns wahnsinnig, dass wir unser Stück aufführen können“, sagt Regisseurin und Dramaturgin Petra Cambrosio, „auch wenn es unter besonderen Bedingungen ist.“
Seit August hätten die neun jungen Schauspielerinnen und Schauspieler konzentriert gearbeitet. „Es ist viel von ihnen in das Stück eingeflossen. Es ist so eine Herzenssache geworden.“ In Pandemiezeiten jeden Donnerstagabend zusammenkommen zu können, sei an sich schon etwas Besonderes gewesen. „Aber es ist nun besonders schön, dass die Jugendlichen vor Publikum zeigen dürfen, was sie erarbeitet haben.“
Alle spielen alles
Als die Zuschauer den Saal betreten, läuft das Stück schon – genauer gesagt, laufen Alyah Broger, Nina Festi, Emilia Freienmuth, Hanna Geissbühler, Joelle Hensinger, Carla Hunziker, Levano Krähemann, Lumi Probst und Finn Rufer - alle im Alter zwischen 13 und 16 - auf der Bühne herum und tun, was junge Leute eben tun: telefonieren, gestikulieren, musizieren, meditieren. Der Ton für den Abend wird schon gesetzt: „Nur noch ein Level“, hört man, ebenso wie „Wie kann ich dir helfen“, oder „Scheiss-egal“.
Ein Darsteller tritt vor, zieht als klares Attribut einen grauen Kapuzenpullover über und sagt: „Ich bin Lukas – und ich will Game-Profi werden.“ (Sarah Caldwell und Eliza Orellano sind für Kostüme und Maske verantwortlich). In den nächsten Szenen übernimmt ein anderer Schauspieler, eine andere Schauspielerin die Rolle des Lukas‘, zieht den grauen Pullover über und beleuchtet eine andere Facette im Leben des hin- und her gerissenen Jungen. Jeder und jede kann Lukas sein. Und keine Figur ist eindimensional.
Perspektivischer Wechsel zwischen Innen- und Aussenwelt
Während also der jeweilige Lukas oder einer der anderen Protagonisten eine Gemütsregung nach Aussen zeigt, verkörpern die Kollegen im Hintergrund tieferliegende Motive, die im Innern ablaufen. Während Lukas mit sich selbst ringt, ob er sich Hilfe holen soll oder nicht, wechselt das Sweatshirt im Sekundentakt.
Das Publikum weiss durch diese beeindruckende Choreographie, was der Protagonist sagt und was er währenddessen de
Väter? Kommen in dem Stück so gut wie nicht vor
Der Kniff gibt den jungen Schauspielern die Gelegenheit, in Miniaturen zu brillieren. Lukas‘ Mutter beispielsweise spricht mit ihrem Sohn über Alltägliches, im Hintergrund erfahren wir durch nur einen Satz oder eine Geste, dass sie eigentlich gern tanzt, dass sie zum Yoga geht und dass sie eine Freundin hat, von der sie sich Unterstützung erhofft.
Väter sind in „Level-up“ übrigens quasi inexistent. Immerhin Lukas‘ Deutschlehrer, der sich ebenfalls um den Jungen sorgt, erwähnt seinen eigenen Erzeuger. Allerdings habe er von ihm keinerlei Unterstützung erhalten, weil der Vater Alkoholiker gewesen sei. Ein berührender Song erzählt von dessen Schicksal, wortwörtlich am Rande des Schauspiels.
Gegenentwurf wird mitgeliefert
Eigentlich ist Lukas ein ganz normaler Teenager. Er ist ein bisschen verliebt, traut sich aber nicht, das Mädchen anzusprechen. „Sie ist so perfekt, da kann ich gar nicht mithalten.“ Die Theatermacher stellen seine Fast-Freundin Ella, die Lukas‘ Gefühle tatsächlich erwidern würde, dem Süchtigen gegenüber.
Sie sagt von sich, Musik sei alles für sie. Sie ist also ebenfalls auf ein Thema fixiert. Sie hat ebenfalls Ärger mit ihrer Mutter, denn die sähe es lieber, wenn Ella Jura statt Musik studieren würde. Doch im Unterschied zu Lukas beugt sich Ella noch den Wünschen ihrer Mutter und den Regeln der Vernunft.
Selbsterkenntnis als erster Weg zur Besserung
Damit ihr Smartphone und Tablet nicht konfisziert werden, verlässt sie brav ein Konzert, um auf ihre kleine Schwester aufzupassen. Damit sie studieren kann, will sie in der Schule gute Noten schreiben. Ella hat ihre Obsession also im Griff, die Konflikte zur Mutter sind auszuhalten.
Als dagegen Lukas‘ Mutter in ihrer Not die Spielkonsole wegräumt, eskaliert die Situation. Von Einsicht ist der Jugendliche weit entfernt. Erst in der psychiatrischen Klinik kann Lukas - und mit ihm alle Mitspieler – das bekannte Mantra der anonymen Selbsthilfegruppen-Mitglieder aussprechen: „Ich bin Lukas – und ich bin süchtig“.
Zwischen Performance und Dokumentation
Es geht in „Level up“ nicht nur um Spielsucht. Leiden die Eltern vielleicht an Kontrollsucht? Ist der Putzfimmel der Mutter auch eine Sucht? Oder ist sie Workoholic? Ein jugendlicher Dealer bekennt sich offen zu seiner Kokainsucht. Die Tochter der Freundin von Lukas‘ Mutter hatte eine Essstörung.
Je tiefer man im Laufe des Theaterabends in das Thema einsteigt, desto mehr Abhängigkeiten erkannt man. Für den wissenschaftliche Hintergrund sorgen Video-Einspielungen, die Eric Scherrer – selbst früher ein aktiver Schauspieler beim Jungen Theater Thurgau - gedreht hat.
Die Botschaft: Es gibt keine einfachen Lösungen
Die Darsteller und Darstellerinnen tragen Definitionen vor. Wenn die Tonspuren nach einigen Sekunden übereinandergelegt werden, sind die Zuschauer geplant überfordert. Die Situation ist eben komplex.
Nächste Aufführungen
Nächste Aufführungen von „Level up“ im Eisenwerk in Frauenfeld:
Do 29. April, Fr 30. April, Sa 1. Mai., So 2. Mai (bereits ausverkauft), Do 6.Mai, Fr 7.Mai, Sa 8.Mai
– jeweils 20 Uhr, sonntags 18 Uhr
Tickets über Ticketino 28 Franken, ermässigt 16 Franken
Von Inka Grabowsky
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