von Judith Schuck, 18.04.2023
Liebe macht stark
Ein Holzspielzeug zeigt uns, was wahre Menschlichkeit ist: Das Theater Bilitz in Weinfelden feierte die Premiere von «Hü!» vor vollen Rängen. (Lesezeit: ca. 3 Minuten)
Ein starker Wille, Verantwortung und die Treue gegenüber seinem Schöpfer sind die Eigenschaften, die ein Kinderspielzeug zum Helden machen. Mit «Hü!» inszeniert das Theater Bilitz ein Stück für Kinder ab 6 Jahren, das auf einem alten, aber immerwährend aktuellen Stoff beruht. Und so spielten Christina Benz, Roland Lötscher und Daniel R. Schneider im gefüllten Saal die Premiere im Theaterhaus Thurgau.
Das Publikum war bunt gemischt, von Schulkindern bis Grosseltern. Gerade diesen war die Geschichte «Die lustigen Abenteuer des Rösslein Hü», die 2015 wiederaufgelegt wurde, sicher noch aus ihrer Kindheit vertraut. Die britische Kinderbuchautorin Ursula M. Williams veröffentlichte sie 1938 erstmals. Im selben Jahr übersetzte Franz Caspar das Buch ins Deutsche, wodurch es seinen Weg in die Schweizer Bücherregale fand.
Behutsam aktualisiert
Aber kann ein einfaches Holzpferd in Zeiten des Überflusses Kinderherzen noch höher schlagen lassen? In einer Gesellschaft, in der es alles gibt, alles erschwinglich scheint und ein Spielzeug schnell in der nächsten Ecke landet, weil schon wieder etwas Neues die Aufmerksamkeit auf sich zieht?
Die Inszenierung von Regisseur Markus Keller und Produzent wie Schauspieler Roland Lötscher, der gleichzeitig Gründer des Theater Bilitz ist, bewegt sich vom Aufbau sehr nah an den Kapiteln des Kinderbuchs, aktualisiert den Stoff aber ganz behutsam, sodass er ohne schwerwiegende Eingriffe noch heute verstanden wird.
Handwerkskunst verliert gegen Massenware
Spielzeugschnitzer Onkel Peter hat ein kleines Meisterwerk geschaffen: Ein Holzrösslein ist ihm ausserordentlich gut gelungen – es ist so vollkommen, dass er es nicht unter einem Taler verkaufen möchte. Doch kaum jemand interessiert sich noch für die Handwerkskunst: «Niemand mehr will noch Holzspielsachen», ruft Onkel Peter enttäuscht, alle wollten nur noch Plastik.
«Niemand mehr will noch Holzspielsachen»
Roland Lötscher als Onkel Peter
Zwar stehen das billige Plastik und das wertige Holz momentan in starker Konkurrenz, da der Kunststoff zunehmend in Verruf gerät durch seine schlechte Umweltbilanz. Viele Eltern achten wieder mehr auf Qualität statt Quantiät im Spielzeugregal; doch global gesehen hat Onkel Peter durchaus recht. Plastik ist billig und praktisch. Wie soll er mit seiner aufwändigen Handarbeit gegen die billige Massenware ankommen?
«Du bist nicht allein»
Das wunderschöne Holzrösslein fällt seiner Kundschaft schon auf. Aber: 1938 leidet die Gesellschaft immer noch unter den Folgen der Wirtschaftskrise. Europa steuert auf den zweiten Weltkrieg zu. 2023 leben wir ebenfalls im Krisenmodus, es herrscht wieder Krieg in Europa und viele Menschen haben nicht die Wahl zwischen Holz oder Plastik, sondern müssen sich für das günstigere Produkt entscheiden.
Ausserdem möchte das schöne Rösslein gar nicht verkauft werden, sondern bei seinem Schöpfer bleiben. Es will einen Namen und bekommt ihn auch: Hü! Doch bald wird Onkel Peter krank vor existenziellen Sorgen und Hunger. Das dankbare, aber hilflose Rösslein Hü, das von Christina Benz im Wechsel mit Roland Lötscher gespielt wird, versucht ihn aufzumuntern: «Än Rossöpfel schmöckt genauso fein wie än Erdöpfel. Ich helfe dir, du hilfst mir. Du bist nicht allein.»
Aber dann ist Onkel Peter plötzlich verschwunden und Hü macht sich auf die Suche nach seinem Herrn. Es durchlebt zahlreiche Abenteuer und verdient Geld, das Onkel Peter retten soll. Das Märchen von «Pinocchio», das der toskanische Schriftsteller Carlo Collodi 1881 veröffentlichte, diente augenscheinlich als Inspirationsquelle für Ursula M. Williams Geschichte. Ein armer, hungernder Schreiner, dessen Holzpuppe zum Leben erwacht.
Holzspielzeuge als Retter in der Not
Um seinem «Vater» zu helfen, der eigentlich mit dem Verkauf des Stücks sein Überleben sichern könnte, zieht Pinocchio in die Welt, um mit Gold und Geld zu Gepetto, dem Puppenschnitzer, zurückzukehren. Sowohl bei Pinocchio wie auch bei «Rösslein Hü!» gewinnt das Zusammengehörigkeitsgefühl über den materiellen Aspekt, das Menschliche über das Kommerzielle.
«Än Rossöpfel schmöckt genauso fein wie än Erdöpfel. Ich helfe dir, du hilfst mir. Du bist nicht allein.»
Rösslein Hü in der Bilitz-Inszenierung
In der Bilitz-Inszenierung besticht das Spiel von Lötscher, Benz und Schneider durch seine geniale Schlichtheit. Die Emotionen transportiert Daniel Schneider einfallsreich mit seiner Live-Musik. Lötscher und Benz wechseln ihre Rollen so unmerklich, dass es für das Verständnis belanglos ist, wer gerade das Rösslein verkörpert.
Karren und Königsschlösser
Das Bühnenbild von Gabor Nemeth ist so einfach und kreativ, das es ein eine wahre Freude ist, der Wandelbarkeit, der es durch die Aktionen den Interpret:innen unterliegt, zuzuschauen. Harassen und Bretterwände können alles sein: Flüsse, Holzkarren, Schiffe, Bergwerk samt Explosion, Häuser, Pferderennbahnen, Königsschlösser.
Damit das Rösslein Hü am Ende wieder zum Onkel Peter zurückfindet, ist seine Willenkraft und das Motiv des Heimwehs zentral. Das Heimweh war schon Motor für Odysseus, dessen Heimreise von Troja, auf der er seine Abenteuer erlebte, ihn zum Helden machten. Wie Odysseus wächst Hü an seinen Aufgaben, gewinnt Selbstbewusstsein, ist nicht mehr Last, sondern unglaublich belastbar.
Die Suche nach den eigenen Stärken und das Zusammengehörigkeitsgefühl, die emotionale Verbindung, die zwischen Onkel Peter und dem Holzpferd besteht, können auch den Kinder und Erwachsenen als Vorbild dienen. Zwar geht es in unserer westlichen Gesellschaft meist weniger um die pure Existenz, aber in einer digitalisierten Welt um so mehr um Selbstbewusstsein, Verlässlichkeit und wahre Freundschaft.
Hü!
Theaterhaus Thurgau, Weinfelden
Premiere: Sonntag, 16. April, 10.15 Uhr
Mittwoch, 19. April, 15.15 Uhr
Eisenwerk, Frauenfeld
Samstag, 17. Juni, 15 Uhr
Reservationen: www.theaterhausthurgau.ch, T. 071 622 20 40 (Mo-Fr 11-12.30 Uhr)
Von Judith Schuck
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