von Maria Schorpp, 17.08.2022
Schneemacherin mit Kultpotenzial
Bei den Schlossfestspielen Hagenwil schneit es mitten im Sommer. Aber nur ein bisschen. Viel wichtiger sind die vielen grossen und kleinen Ideen, mit denen „Frau Holle“ ihr Publikum für sich gewinnt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Klar, dass Frau Holle den Winter am liebsten hat. Aber sie mag eigentlich alle Jahreszeiten. Wenn sie es regnen lässt, dann dreht sie voll auf und erinnert an Wetterfrosch Jörg Kachelmann, der sich angesichts so eines Sauwetters richtig begeistern konnte.
Rahel Roy, mit blauer Brille und Stirnband im Eiskristalldesign, legt in Hagenwil das eine oder andere Tänzchen hin. Sie hat Kultpotenzial, diese „olle Frau Holle“. Die La-Ola-Welle „ho, ho, Holle“ soll bereits grassieren unter den Kids.
Die weltoffene Frau Holle
Die Kinder- und Jugendsparte bei den Hagenwiler Sommerfestspielen kommt also dieses Jahr mit dem Märchen „Frau Holle“ heraus, in dem sich viel um den Schnee dreht. In der Adaption von Florian Rexer dann aber eher weniger, denn, siehe oben, Frau Holle ist nicht fixiert auf den Winter. Sie ist offen für alles in der Welt.
Nur einmal fliegen ein paar Federn auf. Überhaupt hat sich Florian Rexer als Regisseur und Textbearbeiter einige Freiheiten genommen bei seiner Interpretation des Grimmschen Märchens und ist dabei sicherlich auf einen möglichen wahren Kern gestossen.
Eine männliche Note namens Jakob
Und auf eine Vorgeschichte (sowie Nachgeschichte), die dem Märchen mit den vier Frauen auch eine männliche Note verleiht. Jakob heisst sie und ist ein ganz lieber Kerl, der mit Frau Holle übers Parkett fegt.
Vom Wolkenreich aus, in dem die Schneemacherin ihr gut gelauntes Regiment führt, verguckt er sich per Fernrohr in die süsse Marie, die auf einem grossen Bauernhof in der Nähe zum Bodensee lebt. Nebenbei hat er noch einen Zweitjob als Erzähler.
Der Regenbogen als Zeichen für Toleranz
Die Hagenwiler Inszenierung spielt geschickt mit Märchenelementen, lässt Jakob, den Mischa Löwenberg mit viel Herz und ein bisschen trotteliger Naivität sehr kindgerecht gibt, Frau Holle einen Schlüssel zu einem verbotenen Turm stibitzen.
Dort findet er den Regenbogen, auf dem er auf die Erde rutscht, mitten hinein in besagten Bauernhof. Überhaupt der Regenbogen: Als Zeichen für Vielfalt und Toleranz schwebt er über diesem Wolkenreich, das eine Utopie darstellt, die sicher auch ein Publikum erreicht, das altersmässig bei vier Lebensjahren beginnt.
Raum für Phantasie
Jakobs Reise auf der Rutsche wird effektvoll über Geräusche und kleine Bühnentricks ins Szene gesetzt. Der Phantasie wird Raum gelassen, sich zu entfalten. Zwei Poster zeigen an, ob man sich gerade im Wolken- oder Menschenreich befindet, ansonsten gibt es nur einen Vorhang, hinter dem Requisiten verschwinden bzw. hervorgeholt werden.
Die Bühne von Peter Affentranger erinnert ein bisschen an ein Kasperletheater, zumal auch noch die Handpuppe Emilie herumflattert, eine allerliebste Taube, die Botin zwischen dem Wolken- und Menschenreich.
Sprechender Backofen und kichernder Apfelbaum
Schön auch, wie die Stationen auf dem Weg zu Frau Holle umgesetzt werden. Da ist der sprechende Backofen, auf den Glücksmarie und Pechmarie nacheinander treffen, sowie ein Apfelbaum, der kichert, wenn ihm Marie die Äpfel abpflückt.
Sarah Hermann spielt die beiden Schwestern so konträr, wie es Schwestern nur im Märchen sein können, im rosa Kleid die eine, im dunkel bedruckten Stoff und mit schwarzer Perücke die andere (Kostüme von Barbara Bernhardt).
Die Glücksmarie ist sehr traditionell geraten
Als Glücksmarie ist sie eine Frohnatur, die grosszügig über die Schikanen und Ungerechtigkeiten der Mutter und Schwester hinwegsieht und als Faktotum immer leicht aufgekratzt im Haus herumwirbelt.
Allerdings hätte diese Glücksmarie mehr heutige Interpretation vertragen können, mit ihrer Schürze überm braven Kleid bedient sie eine sehr traditionelle Frauenrolle. Und was den Fleiss als Symbol für das Gute und Sympathische betrifft, durch den sie sich vor allem von ihrer energiebefreiten Schwester unterscheidet, hätte ein deutlicheres Augenzwinkern sicher nicht geschadet.
Die Pechmarie kommt an
Im Übrigen belegt der Auftritt der faulen, zickigen Pechmarie sowie ihrer exaltierten Mutter im Morgenmantel und keckem Schirmchen (ebenfalls von Rahel Roy gespielt) wieder einmal die Beobachtung, dass die eigentlich weniger willkommenen Seiten der Menschen die offenbar spannenderen Persönlichkeitsmerkmale hervorbringen. Sarah Hermann hat vergleichsweise wenige Auftritte als Pechmarie, die aber in der Premierenvorstellung vom Publikum mit grossem Hallo bedacht wurden.
Richtig böse ist aber niemand, nur sind die einen etwas spezieller als die anderen. Florian Rexer bringt im Team mit seiner Spielleiterin Jeanine Amacher und mit immenser musikalischer Unterstützung durch Kurt von Suso sowie einem bestens eingestimmten Ensemble eine rasante und bis ins Detail ideenreiche Märcheninterpretation auf die Bühne. Auch die mitgekommenen Elternteile hatten wohl ihren Spass, wie der Schlussapplaus bei der Premiere nahelegte.
Weitere Aufführungen & Ticketverkauf
17., 21., 24., 28., 31. August und 4. September, 15 Uhr bzw. 10.30 Uhr.
Tickets gibt es über die Internetseite der Schlossfestspiele Hagenwil.
Von Maria Schorpp
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