von Maria Schorpp, 15.05.2023
Die Ignoranz des Westens
Die deutsch-georgische Autorin Nino Haratischwili las im Frauenfelder Eisenwerk aus ihrem Roman „Das mangelnde Licht“ und erzählte von den Menschen in Georgien in den Chaosjahren des Umbruchs, von ihrer Arbeit und einem Liebhaber. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Dass westeuropäische Menschen heute mehr über die Ukraine wissen, als dass das Land Probleme mit Korruption hat und von einem ehemaligen Schauspieler regiert wird, hat mit dem russischen Überfall zu tun.
Als Georgien in den 1990er Jahren im Chaos versank, hat wohl bei den meisten im Westen nicht einmal das bewirkt, näher hinschauen zu wollen, was da los ist. Los war, dass die Menschen und das Land nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach einer kurzen demokratischen Phase zwischen rivalisierenden Terrorgruppen zerrieben wurde.
Ein starkes Narrativ für Georgien
Im Roman „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili liefert diese Zeit in Georgien eine von zwei Erzählebenen. Was die Autorin bei ihrer Lesung im Frauenfelder Eisenwerk berichtete, illustrierte treffend die Ignoranz, die in Westeuropa gegenüber seinen Nachbarn im Osten herrscht. Dreimal sei es ihr auf ihrer Lesetour für den neuen Roman passiert, dass nach eineinhalb Stunden Gespräch über Georgien Fragen nach dem Muster kamen, wie es denn in ihrer ukrainischen Schule gewesen sei.
Anstatt aber anzuklagen, spielte sie den Ball zurück in ihre ursprüngliche Heimat. Länder wie Georgien im Osten Europas hätten es nicht hinbekommen, ein Narrativ zu schaffen, das stark genug ist, um nicht mit allen zusammen in einen Topf geworfen zu werden. Etwa so: Alle saufen Wodka und sprechen Russisch.
Das „Buch der Stunde“
Ihr hochgelobter Roman „Das mangelnde Licht“ von den vier Freundinnen wurde schon als „Buch der Stunde“ betitelt, weil es einen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine herauskam. Sie habe das Gefühl, dass die Leute danach lechzen, durch ihren Roman etwas über die Situation in der Ukraine zu erfahren. Selbst sieht sie das kritisch. Es gibt Parallelen, sagt sie, um dann zu verstehen zu geben, dass sie es anmassend fände, „für Menschen zu sprechen, die bombardiert werden“.
Vielleicht sollte man den Roman der deutsch-georgischen Schriftstellerin einfach als das nehmen, was er ist: die Geschichte von vier Freundinnen, die in der georgischen Hauptstadt Tiflis/Tbilissi gerade erwachsen werden, wie das Chaos losbricht. Überzeugende Figuren vor der Kulisse gesellschaftlicher Umbrüche – ohnehin die nachhaltigste Weise, sich mit Fremdem vertraut zu machen. Marianne Sax, die Nino Haratischwili im Rahmen der Reihe „Lesefeld“ nach Frauenfeld gebracht hatte, drückte es bei der Begrüssung so aus: Die Autorin habe mit ihren Büchern mehr zur Verständigung zwischen Ost und West beigetragen als manche Politiker:innen.
Videoporträt über Nino Haratischwili
Die Geschichte von vier Freundinnen und von Tbilissi
Von einer „unglaublichen Bildhaftigkeit“ sprach die Journalistin und freie Literaturvermittlerin Luzia Stettler, die sich in der sehr gut besetzten Eisenwerk-Halle mit der Schriftstellerin unterhielt. Eine treffende Analyse, wie zuvor festzustellen war. Nino Haratischwili hatte als Auszug aus dem Roman etwas „Nettes“ ausgesucht, „als die Welt noch halbwegs in Ordnung war“. Sie las vom Viertel, in dem die Ich-Erzählerin gemeinsam mit den Freundinnen aufgewachsen ist.
Schon nach wenigen Sätzen kommt die Stadt Tbilissi mit ihren Bewohner:innen sehr nahe, diese Mehrvölkerstadt mit der bewegten Geschichte wechselnder fremder Herrschaften. Bis in die Gegenwart sind deren Spuren im einstmals angesehenen Sololaki-Viertel zu erkennen, das allerdings vom Staat längst umfunktioniert worden ist, als die Ich-Erzählerin Keto frisch geboren in der Rebengasse 12 eintrifft.
Auch gute Noten gibt’s im Tauschhandel
In liebevoller Distanz – Distanz ist Nino Haratischwili beim Schreiben wichtig – wird von den Menschen erzählt, die sich wie ein Staat im Staat den perfekten Tauschhandel organisiert haben, wo man sich sogar gute Noten für ein Studium besorgen kann. Die Mehrvölkerstadt im Kleinen mit Menschen, die mal nett, mal weniger nett und mal wunderbar skurril daherkommen. So die Grossmütter mütterlicher- und väterlicherseits, die sich Tag für Tag hochintellektuell die Hölle heiss machen.
Erzählt wird in der Rückschau. Im Jahr 2019 treffen sich die Freundinnen nach 20 Jahren wieder. Anlass ist eine Fotoausstellung in Brüssel, in der Arbeiten von Dina gezeigt werden, einer der vier Freundinnen, die die Zeit der Anarchie nicht überlebt hat.
Nino Haratischwili macht auch Theater
Nino Haratischwili ist nicht nur Romanschreiberin, sondern auch Theaterautorin und Regisseurin, was sie ab 2003 – nach einem Studium der Filmregie in Tbilissi – in Hamburg studiert hat. Sie sagte es so: Die Prosa sei wie eine Ehe für sie, das Theater wie ein Liebhaber. Seit der letzte Roman fertig ist, ist sie wieder mehr mit dem „Liebhaber“ unterwegs.
Kleine Kostprobe: Das Thalia Theater zeigt Ende Juni eine Theateradaption von „Das mangelnde Licht“. Ihr neustes Theaterstück „Phädra, in Flammen“, wurde im vergangenen Oktober in Tbilissi von ihr selbst inszeniert, im Mai war am Berliner Ensemble die deutschsprachige Uraufführung.
Kam die Rede auf die Erfolge der vielfach ausgezeichneten Autorin, war von ihrer Seite immer wieder das Wort Dankbarkeit zu hören. Auch als sie erzählte, dass just in diesen Tagen die ukrainische Übersetzung ihres Romans „Das achte Leben“ erscheint. Nino Haratischwili trägt mit Sicherheit dazu bei, dem Land Georgien ein starkes Narrativ zu verschaffen.
Video: Nino Haratischwili im Literaturhaus Zürich
Mehr zur Lesungs-Reihe in Frauenfeld
Initiatorin der Reihe ist Marianne Sax, die Inhaberin des Bücherladens SaxBooks in Frauenfeld. Gemeinsam mit Nadia Guddelmoni, Claudia Hefti, Lukas Hefti und Christina Thalmann aus dem Vorstand des Vereins Lesefeld veranstaltet sie diese seit Anfang 2022. Sie arbeiten eng mit der Kantonsbibliothek zusammen, die sie vor allem auch mit technischer Infrastruktur versorgt. Gegründet hat sich der Verein im August 2020. Im Sommer 2021 startete Sax mit «Literatur auf der Terrasse», denn die Lesungen fanden auf der Terrasse des Buchladens statt. Mehr zum Programm gibt es auch hier.
Von Maria Schorpp
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