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Reiche Witwe gesucht

Reiche Witwe gesucht
Der König der Diebe und seine Gefolgschaft: Fagin (Hans Rudolf Spühler) umringt von seiner Kinderdiebesbande. Szene aus «Oli Twist» (Premiere: 15. Dezember 2019) | © Patrick Itten/www.patrickitten.ch

Auch in reichen Ländern wie der Schweiz leben 100’000 Kinder in Armut. Eigentlich eine gute Zeit, um an Charles Dickens „Oliver Twist“ zu erinnern. In «Oli Twist», der neuen Version von Florian Rexer, gibt es statt Sozialkritik allerdings eher brave Unterhaltung.

Ein paar Zahlen zum Einstieg: In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Kinder. Davon sind etwa 103’000 von Armut betroffen. Rund 278’000 Personen beziehen in der Schweiz Sozialhilfe. Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden sind laut Caritas Schweiz Kinder und Jugendliche. Mit 5,3 Prozent sind sie unter allen Altersgruppen am stärksten von der Sozialhilfe abhängig. Für den Thurgau gibt es zwar keine Daten zur Kinderarmut. Aber: Im Jahr 2017 waren nach offiziellen Zahlen knapp 14‘000 Personen im Kanton armutsgefährdet.

In solch einer Gesellschaft ist es keine schlechte Idee, die alte Geschichte des Waisenjungen Oliver Twist mal wieder auf die Bühne zu heben. Charles Dickens hatte den Roman 1838 veröffentlicht und ihn damals auch als satirische Kritik an den Zuständen im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts gemeint. Dickens schildert darin, das Erwachsenwerden seines Helden Oliver Twist. Geboren im Armenhaus, ohne Eltern aufgewachsen hat er in der klassenbewussten und auf Profit gepolten englischen Gesellschaft von Anfang an kaum Chancen auf ein einigermassen zufriedenstellendes Leben. Dass am Ende des Romans trotzdem etwas aus ihm wird belegt, so eine Botschaft der Geschichte, dass nicht Umweltbedingungen, sondern Charakter, Erbanlagen, Glück und die Hilfsbereitschaft anderer Menschen ausschlaggebend für den Lebensweg sind.

Das Leben als Kampf: Oliver Twist (Linus Itten) hat es nicht leicht. Weder mit dem Meisterdieb Fagin (Hans Rudolf Spühler, linkes Bild) noch mit dem Kollegen Noah Claypole. Bilder: Patrick Itten/www.patrickitten.ch  

Regisseur Rexer verzichtet auf viele Verästelungen des Romans

Nicht einfach, diese dichte Handlung zu dramatisieren, aber Regisseur Florian Rexer und Projektleiter Andreas Müller haben sich in den vergangenen Monaten die Mühe gemacht, gemeinsam mit einem Ensemble aus Profi- und Laienschauspielern eine eigene Version des Stoffes für die Bühne zu erarbeiten. Am Sonntagabend war - vor ausverkauftem Haus - Premiere im Kulturforum Amriswil. Das Grundgerüst von Dickens Geschichte hat Regisseur Rexer erhalten, aber viele Verästelungen des Romans verdichtet, verkürzt er - die übliche Not, wenn man Romane für das Theater adaptiert. Wohl auch deshalb firmiert das Stück unter „Oli Twist“ und nicht dem Originaltitel von Charles Dickens. 

Die Eröffnungsszene übernimmt Florian Rexer aus dem Musical „Oliver!“, das in den 1960er Jahren am Broadway aufgeführt und später auch verfilmt wurde. Die Armenhauskinder bilden einen Chor und singen die bitterkomischen Zeilen: „But there's nothing to stop us from getting a thrill/When we all close our eyes and imagine/Food, glorious food!/Hot sausage and mustard!/While we're in the mood/Cold jelly and custard!/Peas, pudding and saveloys!/What next is the question?/Rich gentlemen have it, boys/In-di-gestion!“ Als es der kleine Oliver Twist (Linus Itten) nach dem Essen wagt, beim Armenhauschef Mr Bumble (Patrick Doba), nach einer weiteren Portion zu fragen, wird er (mutmasslich) verprügelt. Die Inszenierung zeigt es nicht, legt es aber nahe.

Ein bisschen viel Happy End

Blitzlichtartig erzählt Regisseur Rexer danach Olivers Lebensweg: Seine wenig vergnügliche Lehrzeit beim Leichenbestatter Sowerberry (Falk Döhler), seine Aufnahme in die Diebesbande um den raffinierten Schwindler Fagin (Hans Rudolf Spühler), seine Bekanntschaft mit der reichen Witwe Mrs. Brownlow (eine Figur, die bei Dickens übrigens noch ein Mr. Brownlow war) bis zum reichlich kitschigen Happy End über das Florian Rexer noch ein bisschen mehr süssliche Sauce kippt als Dickens es schon getan hatte: Nicht nur Oliver Twist wird bei ihm am Ende aus der Armut gerettet, sondern die gesamte Kinder-Diebesbande von Fagin, die im Haus von Mrs. Brownlow gutes Essen und Bildung gratis bekommt. Viel mehr Happy End geht nicht.

Genau das ist das grösste Problem der Amriswiler Inszenierung: Die gesellschaftskritische Dimension des Stoffes löst sich im glücklichen Ende vollkommen auf. Man geht raus und denkt sich: Ist doch alles gut. Wenn der Staat versagt, dann muss halt eine reiche Witwe einspringen und das Problem ist gelöst. Fertig. Das ist, wenn man so will, eine sehr schweizerische Lösung, blendet aber a) die eigentlichen Ursachen für soziale Krisen aus und b) löst vielleicht einen Armutsfall, aber nicht die mehr als 100’000 anderen, die es selbst in einem Land wie der Schweiz gibt. 

Momente aus der Inszenierung «Oli Twist». Bilder: Patrick Itten/www.patrickitten.ch

Der Gegenwartsbezug bleibt vage. Leider.

Die Inszenierung vermeidet es hier auch, einen deutlicheren Bezug zur Gegenwart herzustellen. In Zwischenszenen mit Hinweisen auf die aktuelle Situation in der Schweiz versucht man zwar dem gerecht zu werden. Scheitert aber letztlich daran, weil die sonstige Aufführung diese Bemühungen konterkariert: In ihrer eher biederen Erzählweise, in ihren historischen Kostümen zeigt sie mit dem Finger beständig in Richtung England des 19. Jahrhunderts. So als habe das alles mit uns und dem hier und jetzt nichts zu tun. 

Spannend wäre es zum Beispiel gewesen, die Dickens’sche Moral aus der Geschichte einem Aktualitätscheck zu unterziehen. Also zu fragen: Wie sehr stimmt es heute noch, dass nicht die äusseren Bedingungen, sondern vielmehr die innere Einstellung das Lebensglück beeinflussen? Oder ist es nicht längst so, dass man noch der tüchtigste Menschen sein kann und die Umstände einen trotzdem im Unglück halten? Und: Falls das so ist, warum ist das so? Die Amriswiler Inszenierung stellt all diese Fragen nicht. Unterhaltung steht im Vordergrund, nicht die Sozialkritik.

Die vielleicht intensivste Szene des Stücks: Der Tanz der Diebesbande. Bild: Patrick Itten/www.patrickitten.ch 

Tolles Ensemble, zu harmlose Inszenierung

Dem Ensemble kann man da keinen Vorwurf machen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler machen ihren Job hervorragend. Hans Rudolf Spühler ist als Fagin ein wunderbarer König der Diebe, Deborah Loosli überzeugt in ihren Rollen als Bandenbraut Nancy und Mrs Brownlow, Falk Döhler liefert zwar eher Karikaturen als Charaktere, erntet dafür aber die meisten Lacher. Andreas Müller übernimmt verschiedene Rollen im Stück. Am besten gelingt ihm die des britisch-steifen Butlers von Mrs Brownlow.

Was die jungen Kinderschauspieler und -schauspielerinnen auf die Bühne bringen, verdient ohnehin grossen Respekt. Immer wenn sie gemeinsam auf der Bühne stehen, verpassen sie der Inszenierung einen Energieschub. Besonders gelungen: Die Tanz-Battle-Szene (Choreografie: Rita Bänziger und Giulia Esposito) am Anfang des Stücks, die Einblicke in die Hierachie der Gruppe erlaubt. Herausragend hierbei: Lia Schmidhauser als Bandenchefin Jacky. Ihr gelingt es, ihrem eher grob gezeichneten Charakter Zweifel und Brüchigkeit mitzugeben, die die gesamte Figur wachsen lassen. Bemerkenswert auch die Leistung des jungen Linus Itten, der die Titelfigur Oliver Twist glaubhaft auf die Bühne bringt.

Was bleibt unterm Strich? Wer Dickens Geschichte kennt, dem wird Florian Rexers „Oli Twist“ etwas schwachbrüstig daher kommen. Wer den Roman von 1838 nicht gelesen hat, kann die Aufführung durchaus unterhaltsam finden. Meine Meinung: Eine kluge Stückauswahl, ein tolles Ensemble, aber eine Inszenierung, die gemessen am Gehalt des Stoffes zu harmlos bleibt. 

Weitere Aufführungen: 27./28./29. Dezember im Kulturforum Amriswil, 10./11./12. Januar im Eisenwerk Frauenfeld und am 27./28./29. Februar im Presswerk Arbon. Tickets im Internet unter www.olitwist.ch   

Video: Einblick in die Probenarbeit zu «Oli Twist» (Video: Samantha Zaugg)

 

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