von Judith Schuck, 13.05.2023
Grenzen des Wachstums
Es geht ums Überleben. Kunst hilft anders als Wissenschaft, unser Leben zu hinterfragen. Beim 5. Kulturforum ging es um ökologische Nachhaltigkeit in der Kultur. Wie muss Kultur künftig aussehen? (Lesezeit: ca. 4 Minuten)
„Die Rahmenbedingungen werden sich ändern. In Zukunft werden wir nicht mehr so Kultur veranstalten können, wie wir es jetzt machen.“ Martina Wyrsch hielt das Input-Referat beim 5. Kulturforum, zu dem das Kulturamt ins Theaterhaus Thurgau nach Weinfelden einlud. Wyrsch ist Umweltingenieurin und Nachhaltigkeitsberaterin.
Mit ihrer Firma Tiefgrün GmbH gestaltet sie Nachhaltigkeitsprozesse für Unternehmen. Sie glaubt fest daran, dass nicht die Natur von uns gerettet werden muss; „sie erfindet sich immer wieder neu.“ Vielmehr gehe es darum, ob wir überleben, „weil wir alles andere als nachhaltig mit unseren Ressourcen umgehen.“
Die Erde ist erschöpft
Nachhaltigkeit bedeutet, dass künftige Generationen, weniger privilegierte Menschen und andere Lebewesen ebenfalls ihre Bedürfnisse befriedigen können. Momentan leben wir auf ihre Kosten.
Der Welterschöpfungstag war in diesem Jahr in Deutschland bereits am 4. Mai erreicht, in der Schweiz ist der 13. Mai Stichtag. Würden alle Menschen so leben wie wir, bräuchten wir drei Erden.
Auch was die 17 UN-Ziele der Agenda 2030 betrifft, sind wir schlecht auf Kurs. „Wieso muss die schweizer Kulturbranche hier etwas tun?“, fragt Martina Wyrsch in die Runde der Zuhörer:innen, bestehend aus Kultuschaffenden, Veranstalter:innen und Interessierten.
Kultur ermöglicht einen anderen Zugang zum Thema
Als Quelle der Inspiration und Vermittlerin für neue Denkansätze seien Kunst und Kultur unabdinglich bei dieser existenziellen Frage. „Es braucht neue Narrative, wie wir uns unser zukünftiges Leben vorstellen“, fordert die Referentin.
Die grössten Umweltbelastungen entstehen durch Ernährung, Wohnen und Mobilität. Mit 28 Prozent führt unsere Ernährung die traurige Spitze an. Davon ist fast die Hälfte der Herstellung tierischer Produkte geschuldet. Verpackung und Transport spielen überraschender Weise eine eher untergeordnete Rolle.
Als gutes Beispiel voran
Was das für die Festival-Kultur bedeutet, die allmählich beginnt, erläutert die Umweltingenieurin am Beispiel der Winterthurer Musikfestwoche: Bei den CO2-Emissionen fallen 63 Prozent auf die Mobilität, 25 Prozenz auf die Gastronomie.
Abfall und Wasser liegen hier sogar noch unter der Kategorie „Merchandise“. Was die Festivalmobilität betrifft, sind 56 Prozent der CO2-Emissionen auf die Flugreisen der Künstler:innen zurückzuführen. Hier kann und muss eingespart werden.
Immer mehr Kulturveranstalter verzichten bereits auf das Einfliegen von Künstler:innen, wie das One of a Million Musikfestival in Baden. Aber auch direkt bei uns vor der Haustüre gibt es Vorreiter in Sachen nachhaltige Kultur: 2022 feierte das Out in the Green Garden Festival in Frauenfeld sein 10-Jähriges Jubiläum.
„Die Tiere finden es supercool“
Entstanden ist es aus dem Sommerfest des KAFF. „Damals war die Bühne für ein paar Bands ein Traktor im Botanischen Garten“, erinnert sich Mitbegründer Dominik Stillhard. Seitdem ist es gewachsen.
Veranstaltungsort ist seit vielen Jahren der Murg-Auen-Park. „Wir wollen das Festival dort machen, wo es wenig schadet“, sagt Stillhard. Sie seien mit ihren Aufräumarbeiten nach dem Fest im Grunde für die Grundreinigung des Parks zuständig, der selten sauberer sei. Die Veranstalter:innen achten darauf, dass der Sound bewusst vom Wald weg in die Stadt geleitet wird.
„Wir wollen das Festival dort machen, wo es wenig schadet“
Dominik Stillhard
„Das finden vielleicht manche Frauenfelder:innen nicht so gut, aber die Tiere im Wald finden es supercool“, ist er überzeugt. Die drei Tage mit inzwischen rund 3000 Besucher:innen werden komplett durch Freiwilligenarbeit gestemmt.
Verzicht auf Flugreisen und tierische Produkte
Auf der Bühne soll die Diversität abgebildet werden, die es in der Bevölkrung gibt, mit Schwerpunkt auf lokalen und regionalen Acts. Auf das Einfliegen von Künstler:innen verzichten sie beim Out in the Green Garden seit etwa vier Jahren.
Hier kann auch viel über ein gutes Tour-Management organisiert werden. Bei Speisen und Getränken wird ebenfalls auf kurze Wege geachtet, das Essen ist vegetarisch oder vegan. „Ob wir uns damals aus ethischen oder finanziellen Beweggründen für das vegetarische Essen entschieden haben, ist heute nicht mehr nachvollziehbar“, gibt Johannes Eiholzer, Betriebsökonom und Teil des Veranstalterteams, mit einem Augenzwinkern zu.
Allerdings zeigt dies: Nachhaltig ist nicht immer teurer. Denn eine Frage aus dem Publikum lautete: „Umweltschutz geht oft über den Geldbeutel hinaus. Gibt es nicht auch Einsparungseffekte?“ Dass es diese gibt, zeigt nicht nur das Beispiel beim Verzicht auf Fleisch, sondern auch, wie die Speisen serviert werden.
Was braucht es wirklich?
Benötigt es zum Trockenkuchen einen Teller oder reicht die Serviette? Martina Wyrsch möchte ausserdem aufs Thema Foodwaste hinweisen, das eine erhebliche Rolle spielt: „Was braucht es wirklich für eine gelungene Veranstaltung?“
Sie stellt zudem spannende Plattformen und Vereine wie Reflector oder Tatenbank vor, die Hilfen und Ideen anbieten, für eine nachhaltigere Kultur. Gerade im Bereich Szenographie ist viel im Bereich Second-Hand und Wiederverwertung möglich.
„Offcut bietet hier beispielsweise einen Materialmarkt. Wiederverwertung und Kunst stehen nicht im Widerspruch“, sagte Wyrsch. „Man kann sehr wohl ressourcenschonend Neues erschaffen.“
Mobilität auf den ÖV lenken
Was den Publikumsverkehr und die Anreise betrifft: Der Standort fürs Out in the Green Garden wurde am Bahnhof gewählt und bewusst auf Parkplätze verzichtet. Die Leute sollen mit dem ÖV oder Velo anreisen.
Zu diesem Punkt gab es Einwände aus dem Publikum, da ein Museumsbetreiber oder fester Veranstalter im Gegensatz zum Festival wenig Einfluss darauf habe, wie die Leute anreisten.
„Kultur ist immer politisch und befruchtet die Leute.“
Johannes Eiholzer
Wyrsch rät dazu, dass bereits auf der Homepage der Fokus auf den ÖV gelegt werden könne. Johannes Eiholzer, der 2018 für Chrampfe und Hirne für den Frauenfelder Stadtrat kandidierte, wirft ausserdem ein: „Kultur ist immer politisch und befruchtet die Leute. Wenn Sie in Ihrem Museum Nachhaltigkeit ins Zentrum stellen, wird es für Sie auch einfacher bei politischen Entscheiden den Finger zu heben.“
Die Kleinen machen schon viel richtig
Man müsse künftig beweisen, dass man mit den Emissionen runtergeht, sagt Martina Wyrsch. Was Grossveranstaltungen betrifft, die immer mehr wachsen wollen und damit immer belastender für das Ökosystem sind, könnte es schwierig werden.
„Hoffentlich überleben die Kleinen, die schon viel richtig machen.“
Martina Wyrsch
„Hoffentlich überleben die Kleinen, die schon viel richtig machen.“ Wyrsch bringt hier den Begriff der Genügsamkeit ein. Die Grenzen unseres Wachstums müssten wir erkennen. Immer mehr und weiter – „das geht nicht auf, irgendwann ist auch einmal fertig.“
Dabei sind wir ja im Grunde zufriedener, wenn wir diese Grenzen anerkennen und sehen, dass wir nicht ständig nach Mehr und Höherem streben müssen. Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung Thurgau, warf ein, dass Ästhetik und Ethik nah beeinander lägen und dass wir uns die Frage stellen müssten, wie wir leben wollten.
Wie wollen wir leben?
Wyrsch findet, die Zeiten, in denen man durch die Welt jettet, um seine:n Lieblingskünstler:in zu sehen, sind vorbei: „Nicht jeder hat das Recht, in der Welt herumzufliegen. Können wir unsere Bedürfnisse nicht auch mit dem Angebot vor Ort befriedigen?“
An die Anwesenden gerichtet, schloss sie die Diskussion: „Ihr habt diese Hebelwirkung, ich will euch animieren vorwärts zu machen.“ Kultur müsse ihre Verantwortung übernehmen, „sie kommt auf andere Weise rüber als die Wissenschaft.“
Von Judith Schuck
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