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von Maria Schorpp, 29.10.2018

Erwin mit dem Vorschlaghammer

Erwin mit dem Vorschlaghammer
Ein Mann und seine Welt: Erwin (Joe Fenner) mit seiner Modelleisenbahn in dem Stück "Mein Leben in H0" | © Theaterwerkstatt Gleis 5

„Mein Leben in H0“ von Giuseppe Spina in der Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 ist der Monolog eines Modelleisenbahners, der über dem Spielen das Leben verpasst hat. Joe Fenner zeigt einen Menschen, der auch aus gutem Grund vor dem Leben flüchtet.

Schaut man sich das einmal genauer an, steigt so eine Ahnung in einem auf: diese Liebe zum Detail, dieser Wille, das Leben so abzubilden, wie es ist. Und das im Massstab 1:87. Da fahren nicht nur die Loks den Berg hoch und runter, da gibt es auch Gebäude, und in den Gebäuden sitzen winzig kleine Menschlein. Für uns, die wir siebundachtzigmal so gross sind, werden sie sichtbar, wenn Erwin sie mit seiner Handkamera auf die Videoleinwand im Hintergrund projiziert. Wollte man Erwin alias Jimmy in dieser Miniatur abbilden, müsste man ein Loch in die Tischlerplatte schneiden und einen Keller basteln. Da spielt sich im wahrsten Sinne des Wortes Erwins Leben ab.

Für Erwin ist das Leben ein Spiel, ein Spiel in der Parallelwelt der Modelleisenbahn. Er spielt nicht unbekümmert wie seine berühmte Schwester Pippi Langstrumpf, die sich die Welt, macht, wie sie ihr gefällt. Erwin fühlt sich der Wirklichkeit verpflichtet, spürt dem Leben nach, verachtet Floskeln und allzu einfache Wahrheiten. Man könnte sich vorstellen, dass er ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein könnte, sässe er nicht in seiner Unterwelt. „Mein Leben in H0“ hat Giuseppe Spina, der bei dieser Gleis 5-Produktion als Autor beteiligt ist, über sein Stück geschrieben. H0 beschreibt die Baugrösse von Modelleisenbahnen im Massstab von 1:87. Er hat damit Erwins Leben vermessen.

Das Leben im Modell ist nicht banal

Joe Fenner spielt den Rentner Erwin in der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld, gleich hinter dem richtigen Bahnhof, erfreulich nicht-depressiv. Zwar hat seine Figur irgendwann mal die Kurve ins richtige Leben nicht mehr bekommen, aber er scheint nicht damit zu hadern. Er spielt, baut das Leben nach, die Gesellschaft, wie er selbst sagt, und man fragt sich, warum eigentlich nicht. Wenn Joe Fenner die Lokomotiven dirigiert, ist seine Figur ganz bei sich. Glücklich. Hier muss er keine Maske aufsetzen, hier kann er sein, wie er ist. Und dass das Leben im Modell nicht banal ist, ist daran zu erkennen, dass der Schauspieler durchaus seine Schwierigkeiten mit der Technik zu haben scheint.

Tatsächlich hat Regisseur Christoph Rath eine richtige Modelleisenbahn auf der Werkstattbühne aufbauen lassen. Zwei junge Männer haben dabei geholfen. Offenbar übt Eisenbahnspielen immer noch seine Faszination aus. Die ist auf der Bühne deutlich zu spüren und erreicht von dort aus auch Menschen, die ansonsten nichts mit der Miniaturisierung des Zugverkehrs am Hut haben. Diesen Sog, der die Betrachter in die verkleinerte Parallelwelt saugt – Erwin hat sich ihm irgendwann ergeben. Joe Fenner macht als Schauspieler keine grosse Sache daraus, er spielt es schön beiläufig, obwohl er mit einer ganzen Philosophie des Modelleisenbahnbauers ausgestattet ist. Lächelnd erzählt er, wie er nach dem Tod seines Vaters die schon weggepackten Kisten wieder rausgeholt hat. Wie er nach und nach zur Kellerassel wurde. Spina hat ihm sanfte und liebenswerte Charakterzüge mitgegeben, die Joe Fenner umzusetzen weiss.

Was hat ihn nur aus dem Leben da oben getrieben?

Was wäre, wenn er sich damals, als sich die Freunde nicht mehr fürs Eisenbahnspielen interessierten, ebenfalls dem Erwachsenenleben ergeben hätte? Heute eine Frau hätte, Kinder hätte? Da ist ein Schmerz zu spüren über endgültig Verlorenes. Er denkt sich aus, wie es wäre, wenn bei der Trauung in der Kirche die Ringe auf der Modelleisenbahn angefahren kämen. Was ist da passiert? Was hat ihn aus dem Leben da oben getrieben? Irgendwann muss es mal anders gewesen sein. Wer hat ihn früher Jimmy getauft, und was ist mit der Musik von Joe Cocker, Neil Young oder Bruce Springsteen, die zu hören ist und die die rebellische Zeit markiert, als er jung war?

Dabei weiss Erwin, dass ein Lebensweg nicht allein von persönlichen Entscheidungen abhängt. Besonders schön kommt sein Nachsinnen über Gott und die Welt in der Tatsachengeschichte über Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow zum Ausdruck, dem Oberleutnant der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte, der 1983 einen Fehlalarm des Frühwarnsystems als solchen erkannt und damit möglicherweise einen Nuklearkrieg mit den USA verhindert hat. Hätte der Mann nicht so mutig reagiert, wäre es heute sowieso aus mit Erwin. So einfach ist das.

Die Episodenhaftigkeit wird dem Text von Spina nicht ganz gerecht

Was an der Inszenierung etwas schade ist: Durch die betonte Episodenhaftigkeit wird sie der Dramaturgie von Spinas „Monolog im Massstab 1:87“ nicht ganz gerecht. Es gibt einen Grund, weshalb Erwin mit dem Vorschlaghammer auf der Bühne erschienen ist, in der Absicht, mit all dem Schluss zu machen. Von dem Clou, auf den das Stück dann hinausläuft, wird man so mehr überrumpelt, als dass er im Nachhinein plausibel erscheint.

Trotzdem: Erwin alias Jimmy kommt einem sehr nahe – in seinem spielerischen Bemühen, das Leben und sich selbst zu verstehen. Würde am Ende nochmals die Handkamera auf seinen Miniaturkeller gerichtet, würde man sehen, wie er gerade hochkommt und zum Bahnhof geht. Er wird erwartet.

Weitere Vorstellungen in der Theaterwerkstatt Gleis 5 am 9., 10., 16. und 17. November.

Weiterlesen: Mehr zur Entstehung des Stücks können Sie hier nachlesen: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/zugvoegel-im-keller-3804 

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