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von Jeremias Heppeler, 08.08.2019

Wie im Märchen

Wie im Märchen
Zwerge und Märchen gehören zusammen. Die Zwerge starteten ihren Siegeszug in unsere Vorgärten als sympathische Sidekicks in "Schneewittchen" - vor allem in der berühmten Disney Verfilmung von 1937. | © Jeremias Heppeler

Mitte August steigt in Romanshorn wieder das Märchenfestival „Klapperlapapp“. Woher kommt diese Lust am Märchen? Und was sind die Märchen unserer Zeit? Ein Essay von Jeremias Heppeler.

«Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.» Sie merken schon, wir zäumen das Pferd jetzt von hinten auf. Aber was ist das auch bitte für ein grandioser Schlusssatz? So alles und doch so nichtssagend. Stetig wiederkehrend. Das Happy End andeutend, aber den Tod mitdenkend. Die von "Es war einmal…" eröffnete Klammer schliessend. Mantraartig, eine Satzikone, die wir kindergleich hypnotisch mitsprechen, ehe uns die vorlesenden Erinnerungseltern das Märchenbuch theatralisch vor der Nase zuklappen. Irgendwie steckt in diesem einen Satz, der zumindest die meisten Grimmschen Märchen vereint, des Märchenpudels Kern. Denn Märchen sind dafür da, um wiederholt zu werden. Immer und immer wieder. Das ist der Grund, warum selbst die Vergesslichsten unter uns problemlos mindestens eine Märchenhandlung wiedergeben können. Sie sind kollektives Gedächtnis, verpflanzt in Kinderköpfe und stetig intermedial erneuert.

Ähnlich wie die Sprache selbst sind sie uns (mitteleuropäischen Aufgewachsene) immanent, ein vitaler Teil unseres Weltverständnis. Märchen sind mündliche Überlieferungen, doch der diesen Text einleitende Schlusssatz erhebt die blosse Erzählung ganz spielerisch zur mündlichen Literatur. Dabei spielt es dann auch fast keine Rolle, was sich zwischen "Es war einmal…" und "Und wenn sie nicht gestorben sind" abspielt - Hauptsache die Protagonisten stimmen. Und die haben es in sich… 

Die Hexe ist ein zentraler Antagonist in der Märchenwelt und tritt gleichermaßen als waschechte, nicht-menschliche Horrorfigur ("Hänsel und Gretel"), aber auch vermenschlicht in Machtpositionen auf ("Schneewittchen"). Bild: Jeremias Hepüeler

Durchtrieben, boshaft, hungrig: Die Märchen-Bösewichte haben es in sich

Alleine die Bösewichte bilden ein beeindruckendes Squad, das sich bis heute als Blaupause für die popkulturellen Antagonisten durchgesetzt hat. Vorneweg ein dynamisches Duo. Die Hexe und der Wolf. Erstere durchtrieben und boshaft, nicht selten vermischt mit der Rolle der bösen Stiefmutter - der Aufstieg massiv an den grimmschen Erfolge gekoppelt. Zweiterer von Instinkten geleitet, hungrig, dem zierlichen Protagonisten aufgrund schierer Körperkraft überlegen und antiken Tierfabeln folgend: sprechend. Und hier wird deutlich: Unsere Märchenhelden haben keine Superkräfte, sie sind meist schwächlich und kränklich. Nicht selten sind sie Verstossene, ungeliebte Kinder, unschuldige Aussenseiter. Ideale Projektionsflächen.

Sie treffen auf übermächtige, ja magische Gegner, gegen die kein Kraut gewachsen scheint - ausser dem eigenen Verstand. Hänsel und Gretel geben Hühnerknochen als ihre Finger aus, das siebte Geisslein versteckt sich in der Standuhr. Meistens aber scheint das Böse zunächst zu siegen: Der böse Wolf frisst Rotkäppchen und sechs Geisslein, Rapunzel wird in einen Turm gesperrt und als sie ihr Prinz entdeckt führt das zu fürchterlichen Bestrafungen, Schneewittchen stirbt am vergifteten Apfel… und meist braucht es dann den Deus Ex Märchina, den aus dem Nichts auftauchenden Helden, meist ein Prinz und erstaunlich oft ein Jäger, der in einem letzten Dreh alles zum Guten wendet. Ganz zeitgemäss ist das freilich nicht mehr… im Gegenteil: Es nervt schon ziemlich, dass all die diversen und spannenden Frauenfiguren von stinklangweiligen, austauschbaren Typen gerettet werden - aber zum Glück hat die gegenwärtige Popkultur ja die Chance, das in Remixes und Remakes zurecht zu rücken.

Die Prinzessin ist eine zentrale Heldenfigur der Märchenwelt. Manch weibliche Hauptfigur startet bereits im Adelsstatus ("Dornröschen"), manche schafft den Aufstieg ins Schloss ("Aschenputtel"). Bild: Jeremias Heppeler

Wie Walt Disney in der Ursuppe des Märchens rührte

Und die Märchen werden seit jeher durch den popkulturellen Fleischwolf gedreht. So war es Niemand geringeres als Walt Disney selbst, der Urvater des Mainstream-Pop-und-Popcorn-Kino, der ein Zeichentrick-Schneewittchen (siehe Video-Link unten) auf die Leinwand brachte und mit ihr als Speerspitze Generationen von Disney-Prinzessinnen den Weg ebnete. Das sich ebendiese teils fernab der Originalerzählungen bewegen ist keinesfalls verwerflich, im Gegenteil: Eigentlich folgt diese Maxime konsequent dem Rezept der Genreursuppe. Denn jeder, der schon einmal erlebt hat, wie eine wilde Partyanekdote ein Eigenleben entwickelte, der kann sich vorstellen, wie es einst bei den mündlichen Überlieferungen zu ging. Da wurde hinzugedichtet und weggelassen und umgeformt, dass sich die Balken nur so bogen und dehnten und knarzten und brachen.

Die von den Brüdern Grimm festgehaltenen Versionen müssen wir also als einen temporär festgefroren Zwischenstand verstehen, so als hätte man einen Maler (in diesem Fall hunderte parallel agierende Maler) irgendwann gewaltsam von seiner Leinwand weggezogen und den Ist-Zustand des Bildes zum definitiven Endergebnis erklärt. Vor diesem Hintergrund vollendet die Popkultur das, was der Erzählkultur versagt blieb. Die Märchen bleiben immer in Bewegung. Sie wuseln und watscheln, sie zitieren und verformen, sie passen sich den Medien und Genres an. Man denke nur an Filme wie "Brothers Grimm" oder das Computerspiel "The Wolf Among Us", deren Macher sich munter durch die Märchenwelten sampleten und dadurch post-post-Postmoderne Flickenteppiche vernähten. Entsprechend verändert sich auch ein ganz anderer Parameter, der mit Blick auf die Märchen stetig eine gewichtige Rolle spielte: Die Moral.

Der ewige Kampf: Gut gegen Böse. Wirklich?

Es geht sicherlich ein Stück zu weit, wenn wir Märchen als eine Art Sittenkompass verstehen - dafür überwiegt zu oft die schiere Lust an der blossen Geschichte, am hemmungslosen Erzählen, an der Magie des Ausuferns. Zumindest bei den meist schwarz-weiss schraffierten Kraftfeldern "Gut" und "Böse" werden im Märchen ganz konkrete Grenzen gezogen. Das explizit Gute wird, wie bereits zuvor angedeutet, nicht selten mit der Unschuld der Protagonisten gleich gesetzt, die nun unter Einfluss des definitiv Anderen in akute Gefahr gerät. Mit diesem schleichenden Verfall der Moral geht ein erbarmungsloser Eroberungszug des Bösen und der Gewalt einher. Es werden Menschen und Tiere, ja meist sogar Kinder vergiftet und gefressen, verstossen und ausgesetzt, gemästet und aufgeschnitten, wieder zugenäht und in den nächsten Brunnen geworfen. Harter Tobak!

Die alptraumhaften Horrorszenarien der Märchen-DNA sind teils kaum in Worte zu fassen und führten dazu, dass zeitgenössische Umsetzungen die verrücktesten Genre-Stilknospen wie das "Blair Witch Project" (siehe Video-Link unten) austrieben. Unsere heutige Faszination für diese teils absurden Ausformungen der Gewalt scheint nur folgerichtig: Nicht selten markieren Märchen für Kinder die ersten Erfahrungen mit Fantasywelten, mit Gewalt und wirklich gefährlichen Antagonisten. Diese Erfahrungen verankern sich, schlagen Wurzeln, wecken Abscheu, Angst oder die Lust auf mehr. Nichtsdestotrotz materialisiert sich an dieser Stelle ein überaus merkwürdiger Widerspruch: Denn wie passen die aufgezeigten Gräuel und Schrecken mit Redebewegungen wie "Märchenwelt", "märchenhaft", "Märchen-Hochzeit" oder "...wie im Märchen!" zusammen, die wir ja tatsächlich als Synonym für eine makellose Idylle benutzen? Klar, nicht alle Märchen strotzen vor Gewalt. Es gibt auch witzige und überladene Storys. Des Kaisers neue Kleider. Die Bremer Stadtmusikanten. Geschichten mit tierischen Protagonisten und cleveren Lausbuben. Eine lupenreine, schneeweisse Harmonie ist aber in den seltensten Fällen zu entdecken.

Arm und reich: Wie Märchen soziale Kluften wiederspiegeln

Viel eher müssen wir hier den Kontrast zwischen arm und reich ins Auge fassen. Dieser zeigt sich nicht selten in den Narrationen selbst… Aschenputtel etwa erlebt ihre grimmsche Version des amerikanischen Traumes, aus der Armut, in den Adel. Vor allem aber müssen wir uns die Lebensrealität pre-Gebrüder-Grimm (Jakob und Wilhelm gaben ihre Kinder- und Hausmärchen von 1812 bis 1858 heraus) in Mitteleuropa vor Augen führen. Dort (also dort, wo man zur Unterhaltung eben nichts ausser dem gesprochenen Wort hatte), herrschte allerbitterste, lebensgefährliche Armut. Parallel dazu lebte man an den königlichen Höfen in aberwitzigen Saus und Braus und Rausch. Eine unvorstellbare soziale Kluft, die angesichts nur mässiger medialer Aufarbeitung für die Armen kaum zu begreifen war. Und hier plötzlich manifestieren sich die Märchen als vermeintliche Quelle, als Blick hinter die Kulissen und in eine andere Welt. Für die Kinder der Bauern und Tagelöhner müssen diese Geschichten überwältigend gewesen sein. Zaubererei, Übernatürliches und Gewalt - alles schön und gut.

Serien wie Game of Thrones & Stranger Things sind die Märchen von heute

Was indes mindestens genau so faszinierte, waren die Beschreibungen der Königshäuser. Die Soaps zwischen Prinzen und Prinzessinnen, jenen feinfühligen Wesen, die auf hunderten samtweichen Daunenkissen schliefen. Horror und Idylle sind also nur bedingt ein Widerspruch - viel eher sind sie gleichsam Symptome einer nicht zu begreifenden Gegen- und Spiegelwelt, die zwar die urmenschlichsten Probleme behandelt und durchdenkt, sie aber gleichermassen mit unerreichbaren Figuren und Fantasmen anreichert. Eskapismus. Wie bei Star Wars. Wie bei Game Of Thrones. Wie bei Stranger Things. Märchen sind überall. Immer.
 
P.S. Wir verzichten an dieser Stelle bewusst auf den Schlusssatz, den jetzt jeder erwartet. Wenn Sie aber wollen, dann dürfen Sie ihn sich jetzt gerne denken.

Der Froschkönig ist einer der wenigen männlichen Protagonisten, die es von einem Fluch zu erretten gilt. Im dem grimmschen Märchenbänden steht er an erster Stelle und wurde in Hessen verortet. Bild: Jeremias Heppeler

 

 

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