von Jeremias Heppeler, 06.07.2022
Über Leben
Was der Krieg mit den Menschen und der Kunst macht: Eine an den Bodensee geflüchtete ukrainische Künstlerin über ihr Leben vor und nach dem Krieg. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Krieg frisst alles. Zuallererst die Normalität. Den Alltag. Die Sicherheit. Alyona Zhuk ist so alt wie ich. Auch sie ist Journalistin und Künstlerin. Wie ich. Wir schauen in einen rissigen Spiegel denn das Leben, das sie sich in der ukrainischen Hauptstadt aufgebaut hat, hat nun der Krieg gefressen.
Weit über 3000 zivile ukrainische Opfer hat der Krieg bis heute gefordert. Scheiss Krieg. Dreckskrieg. Und doch, das merkt man und spürt man, ist da eine durchdringende Hoffnung, dass diese sinnlose Gewalt so schnell wie möglich ein Ende findet. Dass das Leben den Krieg überwuchert. Zurück drängt.
Alyona ist vor wenigen Wochen mit ihrer achtjährigen Tochter aus Kyiw nach Konstanz geflüchtet (wichtig: Es heißt Kyiw. Kiew ist die russische Aussprache und Schreibweise). In ihrer Heimat, die derzeit im Zuge eines sinnlosen russischen Angriffskriegs in Brand gesetzt wird, ist sie eine gefragte Künstlerin mit eigenem Studio.
Wie Instagram uns plötzlich verband
Vor einigen Monaten noch schlurfte sie mit ihrem Hund durch die ukrainische Hauptstadt, las gerne in Parks oder in einer der zahlreichen Weinbars der Stadt. Ihr Instagram-Account ist in den vergangenen Monaten auf 18‘000 Follower angewachsen. Dieser Account wird im Folgenden immer wieder eine Rolle spielen, er ist der Grund, warum dieser Text überhaupt entstehen konnte.
Trotz aller analogen und digitalen Bekanntheit in ihrer Heimat fängt sie bei Null an in Deutschland. Wie über acht Millionen Ukrainer:innen, die zuletzt geflüchtet sind. Das ist ihre Geschichte. Und ihre Geschichte.
Irgendwie hat es mir Alyona in die Instagram-Timeline gespült. Die Netzwerke am Bodensee sind klein. Alyonas Arbeiten bemerkenswert. Sie beschreibt ihre Kunst als Art Brut. Naiv. Ungelernt. Klar. Roh. Genau so mag ich meine Tätowierungen.
Video: Was leistet Kunst im Krieg?
Ihre Kunst war schon immer politisch
„Wenn ich gefragt werde, scherze ich normalerweise, dass mein inneres Kind für den Kunstteil verantwortlich ist und mein erwachsenes Ich nur Vorräte kauft, Rechnungen und Steuern bezahlt. Und natürlich die Tätowierpistole bedient- Kinder sollten das nicht tun“, sagt Alyona.
Aber es ist eben der kindliche Blick, der in der Reduktion eine Klarheit definiert, an der komplexere Herangehensweisen oft scheitern. Alyonas Kunst war schon immer explizit politisch. Gegen Sexismus und Rassismus. Und dann, als sich die Gefahr des Krieges über die Ukraine legte, sah sich die Ukrainerin mit Umständen konfrontiert, die sie sich nie hätte eralbträumen lassen.
Warum man sich sich als Verräterin fühlt, wenn man die Heimat verlässt
Das hypnotische Surren der Tattoo-Maschine wird durchstochen von einem harten Alarmgeräusch. TZZZZZZZZZZZZZZZZZ. PIIIEP PIIIEP PIIIEP. Der Schmerz verflüchtigt sich. Wie aus Reflex greife ich zu meinem eigenen Handy, obwohl das ja eh grundsätzlich auf lautlos gestellt ist, aber Alyona Zhuk winkt ab:
„Das ist die App, die vor Flugaktivitäten und möglichen Bombenangriffen in Kyiw warnt. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, sie zu löschen.“ Dann zieht es wieder auf meinem Schienbein, wo mir die ukrainische Tätowiererin gerade einen Eisvogel in die Haut malt.
Alyona betont immer wieder, wie schwierig es sei, die eigene Heimat zu verlassen. Das Leben, das bis vor so kurzer Zeit noch intakt war. Das Leben, in dem alles möglich schien. In dem sie zuerst als Journalistin mit Schwerpunkt auf Menschenrechten gearbeitet hatte - und dann mit Anfang 30 den Karrierewechsel zur Tattoo-Künstlerin vollzog. Durch dieses Leben, diese Freiheit zischten plötzlich die russischen Geschosse.
Ohne ihre Tochter wäre sie wohl nicht gegangen
„Nachdem zwei russische Raketen den Fernsehturm ganz in der Nähe meines Hauses getroffen hatten, fühlte ich, dass es an der Zeit war zu gehen.” Über Lemberg, wo bald auch die Fliegeralarme dröhnten, Warschau und Ulm flieht Alyona mit ihrer Tochter und ihrem Hund nach Konstanz. Ohne ihre Tochter wäre sie wohl nicht gegangen.
„Insgesamt haben wir für die Fahrt von Lemberg nach Konstanz eine Woche gebraucht. Ich kann stundenlang über die Details sprechen, obwohl es so seltsam und stressig war, dass mein Gehirn es verschwommen verdeckt und es so aussehen lässt, als wäre es in einem anderen Leben passiert. Wir waren müde, wir hatten Angst, wir waren desorientiert und fühlten uns heimatlos. Es gibt jedoch keine Worte, um diesen Menschen all meine Dankbarkeit auszudrücken. Sie halfen uns, Fremden, offenherzig und grosszügig, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.”
Wenn die Luftangriffsalarm-App Heimatgefühle weckt
Zurück in das Tattoostudio im Konstanzer Industrie-Gebiet, in das sich Alyona gerade eingemietet hat und durch welches gerade noch der Bombenalarm surrte.
Es gibt einen Grund, warum sie die App nicht gelöscht hat: „Als ich aus Kyiw evakuiert wurde, fühlte ich mich als Feigling, als Verräter. Dort war mein Zuhause, dort war mein Atelier, dort waren meine Freunde, meine Eltern waren in diesem Moment in ihrem Haus nordwestlich von Kyiw, wo es schon sehr gefährlich war. Sie alle für mich zu verlassen, sah aus, als hätte ich keine Hoffnung, obwohl das einzige, woran ich im Grunde festhielt, die Hoffnung war. Für mich ist diese Luftangriffsalarm-App auf meinem Handy eine Art Heimatgefühl. Ich höre den Alarm, wenn meine Lieben es tun. Und dann, wenn der Wecker aus ist, überprüfe ich die Nachrichten in der Hoffnung, dass nichts Schlimmes passiert ist.“
Videotagebuch: Künstler:innen im Ukraine-Krieg
Sogar die New York Times wurde aufmerksam
Als der Krieg begann, wusste sie zunächst nicht, wie sie helfen könnte: „Ich bin kein Arzt, kein Soldat, ich habe kein Auto und keine Verbindungen, um Freiwilliger zu werden. Ich beschloss, dass ich versuchen werde, mit meiner Kunst etwas Geld für die ukrainische Armee zu sammeln. Also bot ich an, im Austausch für eine Spende an die Armee, ein digitales karikaturartiges Porträt einer Person zu zeichnen.
Dann bot meine Tochter an, im Austausch für eine Spende kleine Auftragsarbeiten zu malen. Ich habe es auf Instagram gepostet, dann erwähnte uns die New York Times und wir beide hatten plötzlich eine Menge Arbeit. Wir haben über 20 000 Dollar für die Streitkräfte gesammelt. Ausserdem fing ich an, mich durch kriegsbezogene Kunst auszudrücken, was seltsam war, weil ich mit meinem kindlichen Stil nie gedacht hätte, dass ich Krieg zeichnen würde.“
Kunst & Gesellschaft
Kunst bleibt eben doch Kitt. Zwischen den Menschen. Und Kunst hilft als Ersatzsprache. Immer dann, wenn Worte fehlen. Weil die Menschen verstummen im Angesicht von Überforderung. Oder wenn sie keine gemeinsamen Worte haben. Die Bildsprache kann eine universelle sein, eine, die wir alle verstehen. Gerade in diesen Zeiten.
„Ich habe das Gefühl, dass ich damit Menschen auf der ganzen Welt helfen kann, sich daran zu erinnern, dass gerade jetzt in Europa immer noch Krieg herrscht. Menschen werden getötet, vergewaltigt, gefoltert, Häuser werden zerstört, und die Ukraine braucht immer noch die Unterstützung der gesamten zivilisierten Welt.“
Ein Angriff auch auf unsere Werte
Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf viele Werte, um die wir seit Jahren kämpfen und um die es immer noch zu kämpfen gilt. Gerechtigkeit. Fairness. Chancengleichheit. Das offenbart eine besonders ungewöhnliche Episode, die Alyona erlebt hat.
„Ich habe einen Kalender für 2021 für die ukrainische Nichtregierungsorganisation KyivPride illustriert. Der Kalender hiess 366 Tage Sichtbarkeit, wobei jeder Monat einer der Identitäten innerhalb von LGBTQ gewidmet war.
Die Angst der Diktatoren vor der Kunst
Russen haben eine Kopie davon in einer der besetzten Städte im Osten der Ukraine gefunden und dem 1. Kanal, ihrem wichtigsten Propaganda-Kanal, mehrere Minuten Bildschirmzeit gewidmet. Sie zeigten die Zeichnungen und erklärten, dass es in diesem Cartoon-Stil illustriert ist, um Kinder zu manipulieren und sie auf LGBTQ aufmerksam zu machen.
Sie sagten: ‚Wenn ein Kind einen Film über, sagen wir, schwule Menschen anschaut, wird es sie nicht interessieren, aber wenn sie bunte Bilder sehen, denken sie vielleicht, dass das NORMAL ist.‘ Sie betonten auch, dass dieses NGO von den USA finanziert wird, und das fällt in diese riesige russische Propaganda-Agenda, dass die USA die Ukraine kaufen und sie zu einer Marionette ihrer perversen Werte machen.“
Video: Kunst im Kriegsgebiet
Krieg frisst auch die Kunst
Und da wird klar: Krieg frisst auch Kunst. Und Künstler:innen. Aber: Er lässt sie nicht verstummen. Das macht die Kunst für alle Diktaturen so gefährlich, darum entwickelten die Nationalsozialisten den Begriff der „entarteten Kunst”, die sie verboten und zerstörten.
Kunst verweist immer auf die Zwischenräume. Die Graustufen. Auf Gefühle. Auf das Andere. All das ist brandgefährlich für radikale Regime wie jenes, das Putin gerade auf die Ukraine loslässt.
Und wer wirklich denkt, dass ein Kalender der LGBTQ-Community, in der auf verschiedenste Identitäten in Comic-Form aufmerksam gemacht wird, Teil einer Propaganda-Maschine ist, die Kinder “anstecken” soll, der steckt nicht nur im tiefsten Mittelalter fest, dem ist nicht mehr zu helfen.
Der Versuch eines neuen Lebens
Aktuell versucht sich Alyona ein Leben in Deutschland aufzubauen. Ein wertiges und vielfältiges Leben. Gemeinsam mit Alisa besucht sie Deutschkurse, plant Fahrradtouren. Versucht sich einen Kundenstamm aufzubauen. Zu tätowieren.
„Was auch immer die Themen waren, die ich als Journalist behandelt habe, es ging immer um die Geschichten der Menschen. Ich verliess den Journalismus für die Kunst und nahm diesen Teil mit. Ich betrachte das Tätowieren nicht nur als das Stechen von Menschen. Für mich geht es um Intimität, darum, Menschen zuzuhören, herauszufinden, wer sie sind und warum sie ein Tattoo wollen, wie sie sich fühlen und was sie brauchen. Ich liebe es, mit meinen Kunden zu sprechen. Ich glaube, wenn wir ähnliche visuelle Werte teilen, werden wir auch viele Geschichten und Erfahrungen teilen können.”
Video: Schlachtfeld Kultur. Krieg, Kunst und Gewalt
Alyonas Weg an den Bodensee
Wie wir nach Deutschland gekommen sind? Das ist eine schräge Story.”, beginnt Alyona zu erzählen.
“Als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine begann, evakuierte mein Ex-Mann unsere Tochter sofort in den Westen der Ukraine. Ich weigerte mich zu gehen – ich wusste nicht, wie es eskalieren würde, und ich wollte mein Zuhause nicht verlassen. Da hoffte ich noch immer immer noch, dass alles bald vorbei sein würde. War es aber nicht. Ich verbrachte noch über eine Woche in Kyiw In den ersten Kriegstagen habe ich auf Instagram eine Konstanzerin mit ukrainischen Wurzeln kennengelernt. Sie hat ein soziales Netzwerk gestartet, in dem Geschichten aus der Ukraine auf Deutsch erzählt werden. Wir begannen uns zu unterhalten – ich erzählte Geschichten, sie unterstützte mich. Irgendwann hat sie gesagt: Nimm deine Kinder, deine Haustiere und komm her. Ich werde einen Platz für dich finden. Allerdings war ich noch nicht bereit.” Später ging sie dann doch.
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