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Eine Fabrik für die Kunst

Eine Fabrik für die Kunst
Leuchtendes Bündel: Leandra Agazzi «Trapped in Pattern», 2022. Eine der Arbeiten, die bei der ersten Ausgabe der Ausstellungsreihe Fabrik in der ehemaligen Schifflistickerei Balterswil zu sehen ist. | © zVg

In der ehemaligen Schifflistickerei in Balterswil zieht die Kunst ein: In drei Ausstellungszyklen setzen sich Künstler:innen mit dem Ort und Fragen der Vergänglichkeit auseinander. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Backsteinfassade draussen, viel Geschichte drinnen: Die ehemalige Schifflistickerei in Balterswil, südlich von Aadorf, hat schon manches gesehen. 1909 errichtet als Schifflistickerei in der Blütezeit der Textilindustrie. Als es damit bergab ging, beherbergte das Gebäude eine Emaillier-Werkstatt, eine Schmiede und zuletzt eine Autoreparatur-Werkstatt. Jetzt soll das historische Fabrikgebäude bis einschliesslich 2024 in mehreren Schritten restauriert werden. In der Zwischenzeit zieht die Kunst ein.

„Wir wollen hier eine Plattform schaffen für Künstler:innen und Bevölkerung. Durch die Kunst soll man den Raum, das Gebäude und seine Geschichte entdecken können“, sagt Elena Corvaglia, die das Ausstellungs-Projekt namens „Fabrik“ initiiert hat. Ihr Mann ist Eigentümer des Gebäudes, ein Teil davon stand leer und dort soll nun die Kunst einziehen.

Für die Premierenausgabe hat Corvaglia sechs Künstler:innen eingeladen, die sich in ihren Arbeiten mit dem Ort auseinandersetzen. Alle verbindet, dass sie Absolvent:innen der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) sind, dort haben sie sich kennengelernt.

 

Die ehemalige Schifflistickerei in Balterswil. Hier ist jetzt die Kunst eingezogen. Bild: zVg

Sieben Künstler:innen stellen aus

„Kern des Projekts bildet der wechselseitige Einfluss von Gebäude und Kunstwerken“, sagt Elena Corvaglia. Während die aktuelle Ausstellung - Season 1 - noch bis zum 3. April zu sehen sein wird, folgen die weiteren Ausgaben, ab Herbst. Das hänge aber auch vom Fortgang der Restaurierungsarbeiten ab. Das Dach müsse über den Sommer komplett erneuert werden, ab wann dann wieder Ausstellungen möglich sind, sei derzeit noch offen. „Aber wir planen die zweite Ausgabe im Herbst“, sagt Corvaglia. Dann sollen auch weitere Künstler:innen aus der Region eingeladen werden.

In der Premierenausgabe der „Fabrik“ stellen insgesamt sieben Künstler:innen aus: Leandra Agazzi, Mercedes Borgunska, Elena Corvaglia, Giulia Hess, Martina Helena Kaufmann, Sebastian Lendenmann und Katerina Sedy. Sie alle thematisieren auf sehr unterschiedliche Weise die Geschichte des Ortes und gehen Fragen von Vergänglichkeit und Erhaltung nach.

Flecken werden zu Kunstwerken

Mercedes Borgunska zum Beispiel. Ihre Arbeit „flotsam, jetsam, lagan, and derelict“ greift die verschiedenen Wasser- und Ölflecken auf dem Fabrikboden auf und verwandelt sie in fein gewebte Stoffe. Jedes Muster hat die Künstlerin einzeln programmiert und wird so zum Unikat, das an die einstige Einzigartigkeit des Handwerks erinnern soll.

Die Soundinstallation „Eine An-Gewandte Verkettung“ von Giulia Hess und Martina Helena Kaufmann (die auch mit einer weiteren Arbeit vertreten ist) rückt die Geschichte des Ortes zusammen, in dem sie den Klang einer einst genutzten Schifflistickmaschine verwebt mit dem Geräusch der Regentropfen, die heute durch die undichte Fabrikhallendecke fallen.

 

Kunst am Boden: Mercedes Borguńska flotsam, jetsam, lagan, and derelict, 2022

Wie war das damals für die Arbeiter:innen dort?

Katerina Sedy und Leandra Agazzi konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf die Arbeitsbedingungen und die Menschen, die einst in dieser Fabrik tätig waren. Während Sedys augenfällige Vlies-Arbeit („hin und her“) den Einfluss der Firmen auf die Umgebung und Privatleben der Arbeiter.innen untersucht, blickt Agazzis leuchtendes LED-Knäuel vor gerasterten Wänden („Trapped in Pattern“) auf die streng getakteten Arbeitsabläufe in der Textilindustrie.

Zerfallene Orte und geschichtsträchtige Räume haben Künstler:innen seit je her inspiriert. Wie gut das tatsächlich gelingen kann, zeigen im Keller der Schifflistickerei die Arbeiten von Sebastian Lendenmann und Elena Corvaglia. Lendenmanns komplexe Videoinstallation „Soft dreams of open space outlined with threads“ widmet sich dem Thema der Automatisierung in der Textilindustrie.

 

Sebastian Lendenmann Soft dreams of open space outlined with threads, 2022 3-Kanal-Video-Installation (Farbe, kein Ton), 4:01 Min., 4:50 Min. und 8:38 Min. (Loop)

Zwischen Mensch und Maschine

Darin hat er einer KI-Software beigebracht Stick- und Spitzenmuster zu entwickeln und zu visualisieren. So entstehen einerseits ästhetische Bilder andererseits lotet die Arbeit auch das Verhältnis zwischen Maschine und Künstler aus. „Der Künstler wird zum Wissensvermittler, die Maschine zu eigenständigem Handeln befähigt, denn der Traum von der kreativen Maschine ist auch und vor allem ein Traum vom anderen Menschen“, heisst es im Begleittext zum Werk.

Damit bei all der Technikbegeisterung das Menschliche nicht hinten herunter fällt, dafür sorgt Elena Corvaglia mit ihrer Arbeit „Langwarzeit“ - eine kleine, auf dem Boden liegende, leicht zu übersehende Installation aus bestickter Gaze, Bauschutt und Schmutz, die sich mit Krieg, Leid und Sanktionen beschäftigt. Die aus der Ukraine stammende Künstlerin spielt hier mit dem Begriff der „Langwarzeit“, den sie in einem alten Brief gefunden hat und der sich, so Corvaglia, auf den Ersten Weltkrieg beziehe.

Auch eine Anspielung auf den Ukraine-Krieg

Während dessen herrschte in der Schweiz ein Ausfuhrverbot von Tüchern und Gaze an die kriegführenden Nationen. Bestickte Stoffe waren von diesem Embargo aber ausgenommen, wurden also exportiert und von den Kriegsparteien in Ermangelung anderer Stoffe als Verbandsmaterial genutzt. Wer denkt da nicht an den aktuellen Konflikt in der Ukraine? Die Arbeit dient so als Zirkelschluss vom gestern zum heute, von vergangenen Konflikten zu gegenwärtigen Krisen und schafft so eine Verbindung über Ort und Zeit hinaus.

So klug viele der Arbeiten bei der ersten Ausgabe der Fabrik durchdacht sind, so schwer sind sie bisweilen in ihrer Tiefe zu durchdringen. Ohne Erklärung kommt man als Besucher schnell an Grenzen. Das weitet zwar den Interpretationsspielraum, lässt die Besucher:innen am Ende aber auch ein bisschen alleine. Mit mehr Vermittlung wäre mehr Wirkung möglich. Aber das könnte ja eine Aufgabe für die folgenden Ausgaben der Ausstellungsreihe sein.

 

Katerina Sedy «hin und her», 2022 Vlies (genäht), Masse variabel

 

Die Ausstellung

«FABRIK – Season 1»
Schifflistickerei Balterswil, Stickereistrasse 13, 8362 Balterswil
Dauer: noch bis 3. April 2022
Finissage: Sonntag, 3. April, 13–18 Uhr
Öffnungszeiten:
Donnerstags, 15–18 Uhr
Samstags, 13–17 Uhr
Sonntags, 13–17 Uhr
Führungen jeweils sonntags, 14 Uhr oder auf Anfrage

 

Kontakt: fabrik.balterswil@gmail.com 
Instagram: @schifflistickerei_balterswil

 

 

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