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von Inka Grabowsky, 12.05.2022

Den Stummen eine Stimme geben

Den Stummen eine Stimme geben
Die Videoinstallation Mouthless 1 setzt sich mit Hexerei auseinander und verknüpft jahrtausendalte Naturmythen | © zVg

Kunst in Zeiten des Umbruchs: Die Performance-Art-Award-Gewinnerinnen Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė stellen im Kunstraum Kreuzlingen aus.

Mit der Einladung des Künstlerduos Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė hat Richard Tisserand einen kleinen Coup gelandet. Die Beiden haben ihr Atelier in Basel, in dem sie seit 2015 arbeiten, gerade für eine Künstlerresidenz am CERN bei Genf eingetauscht und stellen parallel dazu die Video-Installation «Mouthless 2» in Wien aus. 2021 waren sie im Finale des Swiss Art Award und erhielten den Schweizer Performance-Art-Award.

In diesem Jahr sind sie für den Prix Mobilière nominiert. Doch es war nicht der Promifaktor, der den Kurator den Kunstraums angesprochen hat. «Ich habe das Video Mouthless 1 in Basel gesehen und sofort gedacht, das muss ich haben. Es hat mich berührt. Die Nachfolgearbeit Mouthless 2 war für mich danach gar nicht mehr wichtig.»

Das Thema und die rhythmische Erzählweise bilden für Tisserand einen idealen Anschluss an das Werk von Rhona Mühlebach , das bis Februar im Kunstraum zu sehen war. «Wenn die Besucher merken, dass es diesen roten Faden gibt, dann habe ich alles richtig gemacht», lacht Tisserand.

 

Dorota Gawęda & Eglė Kulbokaitė stellen gleichzeitg in Wien und Genf aus - und im Kunstraum in Kreuzlingen. Bild: Inka Grabowsky

Zurück zur griechischen Mythologie

«Mouthless», also mundlos sind in der griechischen Mythologie die Astomi oder – nach ihrem vermuteten Lebensraum am indischen Ganges – die «Ganginen». Sie ernähren sich von Gerüchen und gelten als besonders naturnah.

Gawęda und Kulbokaitė, die eine geboren in Polen und die andere in Litauen, vermischen diese Geschichte mit Erzählungen slawischen und baltischen Ursprungs und aktualisieren sie mit Berichten der Hexenverfolgung in der Schweiz.

Alles nur Hexerei?

Die Archive Fribourgs dienten ihnen hierfür als Quelle. «Es gibt viele Varianten von Spiritualität, die unter dem Begriff ‹Hexerei› zusammengefasst sind», sagen sie. «Immer geht es um Aussenseiter in der Gesellschaft, die ein gutes Verhältnis zur Natur hatten, in einer Zeit, als die Natur ausgebeutet werden sollte.»

Im Video «Mouthless 1» ersetzen Gruppenlesungen die Stimmen der Mundlosen. In «Mouthless 2» sind es dann Gesänge.

Neue Horizonte von Ana Vujić

Während also unten im Tiefparterre über das Verhältnis der Menschen zur Natur nachgedacht wird, zeigt oben im Kunstraum Ana Vujić ihre „New Horizons“ und forscht damit zur Rolle des Individuums in der Gesellschaft.

«Am Horizont sucht man nach einem Orientierungspunkt. Wir stehen von gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen man Orientierung braucht.» Auch sie wohnt in Basel, auch sie hat ihre Wurzeln ausserhalb der Schweiz. Sie ist 1981 in Pozarevac in Serbien geboren.

 

Migration aus dem Chaos (Ana Vujić). Bild: Inka Grabowsky

Grosses Format für grosse Wirkung

Ana Vujić ist Kunsthistorikerin und Streetartist. «Es gibt bei mir kein ‹Entweder oder›, sondern nur ein ‹Sowohl als auch›.» Vor allem aber ist Vujić eine politische Künstlerin. Sie zeige Probleme, um Lösungen zu suchen, sagt sie.

Antworten biete sie nicht, aber immerhin einen Anlass nachzudenken, statt in Melancholie zu versinken. «Ich will im öffentlichen politischen Raum gesehen werden und in den Alltag der Betrachter eindringen.»

Kontrolle und Kontrollverlust

Diese Motivation erklärt das grosse Format ihrer Werke. Die Betrachter können quasi in eine Kulisse eintauchen und mit den lebensgrossen Figuren in Dialog treten. Oft sind Gegensätze dargestellt, über die sich trefflich grübeln lässt. Eine Hochschwangere liegt auf dem Sofa, hinter ihr sieht man eine Kuh bei der künstlichen Befruchtung. «Mir geht es hier unter anderem um Kontrolle und Kontrollverlust», so Vujić.

An der Wand gegenüber explodiert ein Schachbrett. Wird es von aussen zerschossen oder zerstört es sich selbst? So oder so ist die Strategie dahin. Die Figuren als Sinnbild für die Gesellschaft werden mit Gewalt umgeordnet.

 

Das Schachbrett explodiert. Die Strategie ist obsolet. Bild: Inka Grabowsky

Freude für Künstlerin und Publikum

Zwei Bilder auf der Stirnseite fallen auf den ersten Blick heraus. Durch die Kleidung der Figuren versetzen sie uns um mindestens hundert Jahre zurück. Wir sehen eine Frau beim Binden von Korngarben, daneben eine Frau im langen Rock mit einem versonnenen Blick in die Ferne auf einem Treppenabsatz.

«In meinen Zeichnungen gibt es oft ein Rätsel. Wir könnten einfach die Treppenstufen hochlaufen und schauen, wohin der Blick der Frau geht.»

Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Für Vujić sind die historisierenden Bildthemen gar nicht so weit weg von ihrem politischen Ansatz. «Vielleicht ist der Blick in die Vergangenheit ja auch eine Option für die Zukunft.» Dann aber muss sie lächeln: «Ausserdem macht es mir einfach Spass, Strukturen wie die Falten des Rockes oder die Kornhalme zu zeichnen.»

Farbfleck im grossen Saal ist eine orangefarbene Säule aus Baustellenfolie, das robuste Plastikgewebe überzogen mit einem hauchfeinen, fragilen Kleisterfilm. Abstraktion trifft Realismus. Aus dem Innern tönten Strassengeräusche, abgemischt vom Soundkünstler «Herr Herrli» . Die Herkunft der Künstlerin von der Street-Art ist unverkennbar.

 

Ana Vujić legt selbst Hand an bei der Werbung für ihre Ausstellung „New Horizons“ im Kunstraum. Bild: Inka Grabowsky

 

Die Ausstellung

New Horizons und Mouthless 1 sind noch bis zum 3. Juli im Kunstraum Kreuzlingen zu sehen. Freitags 15 – 20 Uhr, samstags und sonntags 13 – 17 Uhr

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