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von Veronika Fischer, 28.09.2020

Zwischen Häppchen und Atombomben

Zwischen Häppchen und Atombomben
Dietmar Sous, selbst Jahrgang 1954, beschreibt eine graue, widrige Jugend mit wenig Freuden. Der spitzbübische Blick des Protagonisten jedoch verleiht dem gesamten Text eine Wärme und Lebensfreude, die Laune macht beim Lesen. | © Nina Sous

Schon allein das Cover von Dietmar Sous‘ neuem Roman „Bodensee“ mit einer alten Postkarte ist überragend schön – dahinter verbirgt sich ein lesenswerter Text. Er zeigt die Welt eines 15-jährigen Protagonisten, der sich in den kontrastreichen 1960er Jahren behaupten muss.

Eine Kleinstadt im Ruhrgebiet im Jahr 1962. Eine turbulente Zeit, in der Wirtschaftswunderhoffnungen und Weltuntergangsängste sich die Hand reichen. Es ist die Zeit von Marilyn Monroe, Feischwurst-Schnittkäse-Gewürzgurken-Häppchen und dem Kalten Krieg. In dieser Spannung bewegt sich der Protagonist des Romans „Bodensee“ von Dietmar Sous.

Matthes ist 15 Jahre alt, Gymnasiast, Sohn eines cholerischen Fabrikarbeiters und einer Mutter, die heimlich arbeiten geht, um den Fernseher schneller abzubezahlen. Es ist eine Coming-of-Age Geschichte, die den Protagonisten auf einem steinigen Weg stolpern lässt zwischen der Autorität und Prüderie seiner Zeit. In der Schule gehören körperliche Sanktionen und gewaltsame Übergriffe zum Alltag und auch zuhause hat der Vater seine Aggressionen nicht im Griff.

Die enge Blue Jeans als grösster Kontrahent

Die aufkeimende Sexualität des Jungen sowie seine Versuche sich in gesellschaftliche Systeme einzuordnen gestalten sich dabei als Drahtseilakt. Der grösste Kontrahent von Matthes aber ist seine Blue-Jeans, die ihn aussehen lassen soll wie Marlon Brando, aber so eng ist, dass sie sich nur mit allergrösster Anstrengung tragen lässt.

Als Ausweg aus all diesem Ziehen und Stemmen, fahren Matthes und seine Mutter auf Einladung deren Bruders in den Ferien an den Bodensee. Und dort ist alles anders. Der Onkel hat Geld, bewohnt eine seenahe Villa mit Pool und Haushälterin, es gibt ein reichhaltiges Frühstücksbuffet, Ausflüge in die Schweiz, die neusten Langspielplatten und dazu die Begegnung mit Eva. Nicht umsonst trägt sie den Namen der ersten Frau, denn diese Rolle übernimmt sie auch im Gefühlsleben des Teenagers, der zwar schon die körperliche Zwischenmenschlichkeit am Nachbarsmädchen erprobt, aber noch nicht mit dem Herzen gefühlt hat.

Keine Bodenseegeschichte und doch spielt der See eine zentrale Rolle in dem Roman von Dietmar Sous. Bild: Canva

Sprachliche Dichte mit Witz und Spannung

Eine übereilte Abreise aufgrund des in Wut nachgekommenen Vaters zerstört die zart aufkeimende erste Liebe sowie den Traum von einem besseren Leben im Allgemeinen. Doch dieser väterliche Übergriff bleibt nicht ungestraft und so endet der Roman in einem Fiasko, das zugleich aber auch einen Ausweg aus der bisherigen Tristesse bietet.

Dietmar Sous, selbst Jahrgang 1954, beschreibt eine graue, widrige Jugend mit wenig Freuden. Der spitzbübische Blick des Protagonisten jedoch verleiht dem gesamten Text eine Wärme und Lebensfreude, die Laune macht beim Lesen.

Detektivische Neugier entlädt sich in Pointen

Mit pointierten Sätzen beschreibt Sous die Charaktere, und deren Umfeld. Aufgrund der a-chronologische Erzählweise wird eine Spannung im Text aufgebaut, die fesselt und während des Lesens eine detektivische Neugier entstehen lässt, die sich meist in einer Pointe entlädt.

Durch das sprachliche Stilmittel der Personifikation schafft der Autor geschickt einen Bezug zu den Alltagsgegenständen, die den Protagonisten wie stille Freunde begleiten. Da ist beispielsweise ein Radio, das mitten im schlimmsten Familienstreit tut als wäre nichts geschehen und weiter Liebeslieder spielt.

Oder ein andermal begleiten Hochöfen von Fabriken, die Kette rauchen, den Protagonisten, der sich eine Zigarette ansteckt. So entsteht ein enger Bezug zwischen den Menschen und der Kulisse der 1960er Jahre, der dem Leser diese Welt mit wenigen Worten unglaublich nahe bringt.

Mehr als eine Reise in die Vergangenheit

Es ist eine vergangene Welt, über die Sous schreibt. Eine Zeit, die sich stark unterscheidet von der heutigen. Zum Telefonieren muss man in die nächste Kneipe oder zu einer Telefonzelle laufen. Im Fernsehen gibt es nur ein einziges Programm, über ein zweites lacht der Vater – so etwas brauche er nicht, dann müsste er sich ja entscheiden! Gewalt gegen Kinder ist legitim und allgegenwärtig. Die Frauen sind abhängig von der Gunst ihrer Männer, die traumatisiert vom Krieg schweigen, saufen und zuschlagen. Über allem hängt der Schatten des kalten Krieges, unberechenbar, eine Vanitas-Stimmung.

Und dem gegenüber steht im Roman der titelgebende Bodensee. Ein Ort wie im Paradies. Dort kann man sich frei bewegen, es ist hell und leicht. Es ist Sommer. Es ist nur eine kurze Passage, die dieser Ausbruch aus der Realität einnimmt und doch steht der Bodensee zentral als Motiv eines locus amoenus im Text. Wer eine Bodenseegeschichte erwartet, wird also enttäuscht mit diesem Buch. Dafür aber wird man mit etwas anderem, Überraschendem belohnt.

Ein Abbild des Lebens im Allgemeinen

Durch das geschickte Changieren der Themen wird ein Spektrum aufgemacht von dunklen und hellen Tönen, die zeitgleich nebeneinander bestehen. Und so ist der Roman wohl als Abbild des Lebens im Allgemeinen zu lesen und damit weit mehr als nur ein Schwenk in die Vergangenheit.

Das Buch

Dietmar Sous: „Bodensee“

 


Transit Verlag, 2020, 144 Seiten, 18 €
ISBN 978 3 88747 380 8

 

 

 

 

 
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