Seite vorlesen

Verweile doch, du bist so schön

Verweile doch, du bist so schön
«Momente, die mich anrühren, kann ich nicht einfach so verstreichen lassen.» Die Fotografin Simone Kappeler über ihr Werk und ihren Zugang zur Fotografie. | © Archiv

Die Frauenfelder Fotografin Simone Kappeler erhält in diesem Jahr den Thurgauer Kulturpreis. Ihr Werk ist ein Fest des Moments. Eine Würdigung. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Manchmal muss man sehr weit reisen, um zu sich selbst zu finden. Ein Gedanke, der auch der jungen Fotografin Simone Kappeler durch den Kopf geht, als sie 1980 in Frauenfeld sitzt und sich, nun ja, ein bisschen langweilt.

Ein Jahr zuvor hatte die damals 28-Jährige ihre Fotografinnen-Ausbildung in der Fotoklasse der damaligen Kunstgewerbeschule Zürich abgeschlossen und war notgedrungen in ihre Geburtsstadt Frauenfeld zurückgekehrt, weil sie sich weder Wohnung noch Atelier in Zürich leisten konnte.

Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit Auftragsarbeiten für Architekten und spürt dabei doch tief in sich, dass es das jetzt nicht gewesen sein kann. „Ich wollte etwas Neues, mehr Freiheit“, erinnert sich Simone Kappeler heute.

Ein USA-Trip als Reise zu sich selbst

Sie packt ihre Sachen und reist mit einer Freundin in die USA. Drei Monate sind sie quer durch das Land unterwegs, lassen sich treiben. Nebenher fotografiert Kappeler. Sie habe aufnehmen wollen, was sie berührt, erklärt sie: „Es sollte auch eine Reise zu mir selbst werden.“

Schaut man heute durch den erst 39 Jahre nach dieser Reise erschienenen Fotoband „America 1981“, dann hat man schnell das Gefühl, dass dies gelungen ist. Der Band wirkt wie ein Roadmovie in Fotostills. Man folgt den beiden Frauen auf ihrer Reise und glaubt mit jeder weiteren Seite ihre wachsende innerliche Freiheit zu spüren.

Porträts, Landschaftsaufnahmen, Alltagsbilder, scheinbare Schnappschüsse: Es ist ein bisschen so, als blätterte man das Fotoalbum eines guten Freundes durch. Eines Freundes, der ein ziemlich gutes Auge für den Moment hat.

„Ich leide daran, dass die Zeit so schnell vergeht. Manchmal muss ich dann einfach ein Bild machen, um Dinge festzuhalten. Momente, die mich anrühren, kann ich nicht einfach so verstreichen lassen.“

Simone Kappeler, Fotografin

Dass Simone Kappeler (*1952) nun in diesem Jahr den Thurgauer Kulturpreis erhält hat vielleicht nicht nur, aber dann doch schon auch ein bisschen mit dieser Amerika-Reise zu tun. Der 2020 publizierte Fotoband hat ihrem Werk nochmal neue Aufmerksamkeit verschafft, es gab eine Ausstellung in Zürich und vieles was die Fotografin Simone Kappeler ausmacht ist in diesem frühen Werk schon angelegt: Die Beobachtungsgabe, das Einfühlungsvermögen, das kluge Spiel mit den technischen Möglichkeiten der Fotografie.

In der Medienmitteilung zur Vergabe des Thurgauer Kulturpreises heisst es, Simone Kappeler sei „eine der wichtigsten Fotokünstlerinnen ihrer Generation“. Der Kunstwissenschaftler Bernd Stiegler hat es poetischer formuliert in einem Essay über ihr Werk: „Simone Kappeler erinnert uns daran, dass Farben in der Fotografie immer ein Medium der Verwandlung sind. Sie nutzt es, um die Welt in einer der Metamorphosen zu verwandeln. Selbst Ovid hätte an ihr seine Freude gehabt.“

Bilderstrecke: Einblicke in Simone Kappelers Werk

Tatsächlich ist es diese Wandlungsfähigkeit und diese Vielfalt, die Kappelers Werk so besonders macht. Sie hat sich nie auf nur einen Stil beschränkt, sondern immer wieder Neues ausprobiert. Polaroids, Infrarotaufnahmen, Cyantopien, klassische Porträts und Landschaftsaufnahmen: Die Motive verändern sich, die Techniken variieren und doch steckt in jeder ihrer Arbeiten ein unverkennbares Stück Simone Kappeler.

„Bei meiner Arbeit geht es mir immer um meine Umgebung und die Überlegung mit welcher Technik, mit welchem Apparat kann ich das, was ich über das Motiv sagen will am besten ausdrücken?“, erklärt die Fotografin ihren Stil. Allein auf ihrer Amerikareise hat sie mit 15 verschiedenen Kameras gearbeitet. Über die Jahre hat sie so ein riesiges Werk geschaffen: Mehr als 150’000 Aufnahmen zählt sie dazu. Und fast alle davon hat sie archiviert.

„Meine Arbeiten fangen irgendwo an und folgen nie einem Plan.“

Simone Kappeler, Fotografin (Bild: Jordanis Theodoridis)

Ihr Leben lang hat sie fotografiert. Auch als sie Mutter wurde (Kappeler hat drei Kinder mit dem Autor Gianni Kuhn), legte sie die Kamera nicht weg. Die Motive änderten sich, die Haltung dahinter nicht: Mehr Birnbäume als Palmen, mehr Thurgau statt weiter Welt. Reisen und Ausstellungen wurden weniger, aber ihr Drang hinter die Kamera liess nicht nach. „Ich habe nie viel Geld verdient, aber ich konnte immer machen, was ich machen wollte. Die Fotografie ist mein Zugang zur Welt“, sagt sie.

Ein Zugang, der intuitiv und phänomenologisch erfolgte: „Meine Arbeiten fangen irgendwo an und folgen nie einem Plan. Ich sehe etwas, das ich unbedingt abbilden möchte und dann mache ich ein Bild, vielleicht noch weitere Studien, dann lasse ich es etwas liegen, irgendwann schaue ich es wieder an und dann wird vielleicht etwas daraus oder auch nicht.“ Meistens wird etwas daraus.

Werkzeugkasten: Mit diesen 15 Kameras reiste die Fotografin Simone Kappeler 1981 durch die USA. Bild: Simone Kappeler

Die Allgegenwärtigkeit der Kunst im Elternhaus

Ja, ergänzt sie fast entschuldigend, sie sei eben eine Sammlerin, eine Bewahrerin. Sich von Dingen zu trennen, falle ihr unendlich schwer. Das ist auch der eigentliche Grund, weshalb es sie zur Fotografie gedrängt hat. Es wäre auch anderes möglich gewesen, Kunst und Literatur waren in ihrem Elternhaus ständig präsent, ihr Vater pflegte Freundschaften zu Malern aus Zürich.

Aber Simone Kappeler zog es zur Fotografie. Wegen der feinen Unterschiede zwischen Realität und Fotografie, die man aus ihrer Sicht nur dort so genau wahrnehmen konnte. Wegen der technischen Möglichkeiten. Und eben auch, weil sie so besondere Momente festhalten konnte.

„Ich leide daran, dass all die Zeit so schnell vergeht. Manchmal muss ich dann einfach ein Bild machen, um Dinge festzuhalten. Momente, die mich anrühren, kann ich nicht einfach so verstreichen lassen“, sagt die Fotografin. Betrachtet man einige ihrer Arbeiten kann man beinahe physisch spüren, warum dieser eine abgelichtete Moment für sie so besonders gewesen sein muss.

Los Angeles, 13.7.1981. Bild: Simone Kappeler

Auf der Suche nach dem roten Faden im Werk

Kappelers Vielfältigkeit hat ihr in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer geholfen. Es hiess, sie habe keinen eigenen Stil, es gebe keinen roten Faden in ihrem Werk. Dabei ist ja genau das Plurale ihr Markenzeichen: Das Interesse daran, Dinge aus verschiedenen Perspektiven mit unterschiedlichen Werkzeugen so abzubilden, dass es ihrer eigenen Wahrnehmung möglichst nahe kommt. Wie ein Maler, der unterschiedliche Pinsel benutzt, um die Blicke der Betrachter:innen auf das zu lenken, was er am wichtigsten findet.

Fragt man die Künstlerin selbst, wo sie den roten Faden in ihrem Werk sieht, dann antwortet sie, es sei ihr immer um das „Durchimitieren von Motiven“ gegangen, um „Wiederholungen in Variationen“.

Eine Meisterin des verbindenden Sowohl als auch

Vielleicht ist es aber auch etwas ganz Anderes, was Simone Kappelers Werk ausmacht: Scheinbar mühelos verbindet sie Gegensätze und löst sie auf. Sie spielt mit Schärfe und Unschärfen, sie ist fasziniert von Städten, braucht aber das Land zur Regeneration und in ihren Arbeiten verbindet sie virtuos innere und äussere Empfindung miteinander. Man erfährt etwas über das Motiv, gleichzeitig aber auch etwas über die Wahrnehmung der Fotografin gegenüber ihrem Motiv.

Simone Kappeler ist keine Künstlerin des dualistischen Entweder/Oder sondern eine Meisterin des verbindenden Sowohl-als-auch.

Dass sie nun nach all den Jahren den Thurgauer Kulturpreis erhält, freut die Fotografin ungemein: «Der Preis ist eine grossartige Anerkennung meiner Arbeit, die während 50 Jahren vor allem in meiner Region enstanden ist und entsteht, und die auch eine Ode an diese Landschaft und das Leben hier ist. Es bedeutet mir sehr viel, dass meine Fotografien an ihrem Entstehungsort so positiv wahrgenommen und gewürdigt werden.»

Termin: Die Verleihung des Thurgauer Kulturpreises an Simone Kappeler findet am Montag, 4. Oktober, 19.30 Uhr, im Kunstmuseum Thurgau, statt. Der Fotoband «America 1981» ist im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen.

 

Der Thurgauer Kulturpreis

Der Thurgauer Kulturpreis wird seit 1986 vergeben. Damit spricht der Regierungsrat seinen Dank und seine Anerkennung aus für ausserordentliche kulturelle Leistungen von Privaten und von Institutionen, die das kulturelle Leben im Kanton in besonderer Weise bereichern. Eine Auswahl möglicher Trägerinnen und Träger des Kulturpreises wird dem Regierungsrat jeweils von der Kulturkommission des Kantons Thurgau vorgeschlagen.

 

Weitere Berichte zum Thurgauer Kulturpreis und Porträts früherer PreisträgerInnen gibt es in unserem Themendossier.

 

Eine Liste aller PreisträgerInnen seit 1986 gibt es auf der Internetseite des kantonalen Kulturamts.

 




 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kulturförderung
  • Fotografie

Ist Teil dieser Dossiers

Werbung

Frauenfeld ROCKT - jetzt bewerben!

Anmeldeschluss: 24. Juni 2023

kklick Kulturvermittlung Ostschweiz

Ausschreibung Mandate der Kantone AR, GL, SG & TG (2024 bis 2027). Mehr dazu hier...

BAND X OST - Jetzt anmelden!

Der grösste und wichtigste Nachwuchsmusiker/innen-Contest der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein geht in die achtzehnte Runde. Anmeldung bis 3. September 2023.

Ähnliche Beiträge

Kunst

Vom Licht gezeichnet

Im diesjährigen Sommeratelier in Weinfelden wird Mario Baronchelli die Architektur, die einzigartigen Lichtverhältnisse und überraschenden Lichtspiele in den Räumen der Remise fotografisch erkunden. mehr

Kunst

Die Bienen und wir

Die junge Künstlerin Anna von Siebenthal erforscht im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil die Interaktion von Biene und Mensch mehr

Kunst

Zwei Gärtner im Kunstraum

Ein ungewöhnliches Duo: Ulrich Vogt und Reto Müller leiten den Kunstraum Kreuzlingen jetzt gemeinsam. Das Erbe von Richard Tisserand wollen sie mit Respekt und Vorfreude antreten. Eine Begegnung. mehr