Seite vorlesen

Raus aus der Enge, rein ins Leben

Raus aus der Enge, rein ins Leben
„Es war die vielleicht beste und vor allem fokussierteste Zeit meines Lebens bis jetzt.“: Der Jazzmusiker Niculin Janett über sein Atelierstipendium 2015 in New York. Das Bild zeigt ihn kurz vor einer Session in Williamsburg, Brooklyn. | © zVg

Seit Beginn der 1990er Jahren sind Atelierstipendien im Ausland eines der beliebtesten Kulturfördermittel in der Schweiz geworden. Aber wie zeitgemäss ist diese Form heute noch? Eine Spurensuche

Von Michael Lünstroth

Mal raus kommen, was Neues sehen, sich inspirieren lassen und Kontakte knüpfen: Das sind im Wesentlichen die Gedanken, die hinter Atelierstipendien stehen. Die Zahl dieser Stipendien ist seit den 1960er Jahren in der Schweiz stetig gestiegen. Bund, Stiftungen, Kantone und Gemeinden, die Zahl der Anbieter dieses Kulturförderungsinstrumentes ist heute fast unüberschaubar. Aber die Frage ist: Wie sinnvoll ist dieses Modell in einer digitalisierten Welt, in der man vom Schreibtisch aus überall sein kann, überhaupt noch? Und welches Künstler- und Menschenbild steht dahinter, wenn man glaubt, dass der Künstler oder die Künstlerin nur in der Ferne sitzen braucht, auf die Inspiration warten muss und dann zum fleissigen Produzenten wird?

Auch im Thurgau gibt es verschiedene Atelierstipendien. Die Stadt Frauenfeld zum Beispiel ist über die Städtekonferenz Kultur an Ateliers in Genua, Kairo und Buenos Aires beteiligt, die Kulturstiftung des Kantons unterhält zwei dieser Stipendien: In New York (gemeinsam mit dem Kulturamt Thurgau) und in Belgrad. In der Regel teilen sich mehrere Institutionen, Gemeinden oder Kantone Atelierplätze, die dann im wechselnden Turnus vergeben werden. Die Kulturstiftung hat im Februar zum zweiten Mal ihr Atelier in der serbischen Metropole Belgrad belegt - die Pianistin Simone Keller lebt nun für 6 Monate dort. Für Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung, haben die Stipendien noch immer ihre Berechtigung: „Die Gegenwart ist ja nicht nur von Digitalisierung, sondern auch von Globalisierung geprägt. Meiner Meinung nach geht das Verständnis, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten Gegenwart ganz fest mit der Möglichkeit zum Reisen einher. Zudem ersetzt die digitale Anwesenheit der Welt auf meinem glänzenden Mac-Screen noch lange nicht die tatsächliche Reise an einen Ort, in nahe oder fernere Fernen.“ Entstanden sei die Idee zu den Atelierstipendien aus Gesprächen mit Künstlerinnen und Kulturschaffenden im Thurgau. 

Belgrad, Genua, New York: Diese drei Ziele bieten Thurgauer Institutionen als mögliche Orte für ein Atelierstipendium an. Bilder:Wikipedia

Anliegen der Stiftung sei es auch „Mobilität und Bewegung zu fördern und zu ermöglichen“, so Dal Molin. Beides sei in einer künstlerischen Laufbahn noch immer relevant. Die Auszeiten in Ateliers im Ausland hätten zudem grosses kreatives Potenzial, findet Gioia Dal Molin: „Obschon die Vorstellungen, dass eine Künstlerin, ein Künstler an einem der Heimat möglichst fernen Ort eine wie auch immer geartete Inspiration suchen und finden muss, durchaus überkommen ist, birgt die Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Kontexten und anderen künstlerischen Arbeitsweisen oder Selbstverständnissen immer noch ein grosses Potenzial.“  Vergeben werden die Stipendien der Kulturstiftung durch eine 5-köpfige Jury, die aus sich drei stiftungsinternen sowie zwei stiftungsexternen Experten zusammensetzt. 

Wenn man sich so selbst ausgesetzt ist, kann man nicht fliehen 

Eine, die diese Jury bereits überzeugt hat, ist die Künstlerin Sarah Hugentobler. Sie stammt aus dem Thurgau, lebt heute in Bern. Im vergangenen Jahr ist sie mit dem Atelierstipendium der Kulturstiftung für sechs Monate nach Belgrad gegangen. Für sie war es eine gelungene Zeit: „Ich hatte die Möglichkeit, mich nur auf mich und meine Arbeit zu konzentrieren. Es war eine Zeit der Reflexion, die in diesem Ausmass zu Hause in der gewohnten Umgebung nicht möglich ist“, sagt die 36-Jährige. Aber sie verschweigt auch nicht, dass es nicht immer einfach war: „Wenn man sich selber so stark ausgesetzt ist, kann man sich selber nicht entfliehen. Das produktive Arbeiten fällt mir zurück in der Schweiz leichter. Im Nachhinein war aber gerade dieses Ausgesetzt-Sein eine grosse Qualität: Seit meiner Rückkehr bin ich ziemlich fokussiert, weiss genauer, wie ich arbeiten möchte und meine Entscheidung als Künstlerin leben zu wollen, hat sich nochmals verstärkt.“

 

"Es war eine Zeit der Reflexion": Die Künstlerin Sarah Hugentobler über ihr Atelierstipendium in Belgrad. Das Foto stammt aus dieser Zeit. Bild: privat 

Sie hatte sich vor allem deshalb für das Stipendium beworben, weil sie das Bedürfnis hatte, „einmal für längere Zeit im Ausland zu leben und zu arbeiten, um einmal eine andere Perspektive einzunehmen und etwas anderes zu sehen.“ Ziel war es für sie, vergangene Projekte in Ruhe abzuschliessen „und mir zu überlegen und auszuprobieren, wie und an was ich weiterarbeiten will.“  Wie viel Kontakt man als Stipendiat zu den Menschen vor Ort habe, hänge von jedem selbst ab: „Ich hatte sehr offene und hilfsbereite Gastgeber, die oft vor Ort waren und viele Kontakte zur Kulturszene haben. Bei einem Sprachkurs lernte ich Menschen aus einem anderen Umfeld kennen. Andererseits habe ich es aber auch geschätzt, alleine in einer Stadt zu sein, wo ich niemanden kenne“, sagt Sarah Hugentobler. 

Die Zeit der Stipendien? Oft zu kurz, findet die Wissenschaftlerin

Andrea Glauser kennt ähnliche Geschichten von anderen Stipendiaten. Sie ist Kultursoziologin an der Hochschule Luzern und hat intensiv zu dem Thema „Atelierstipendium“ geforscht und mit vielen Künstlerinnen und Künstlern gesprochen. Sie sieht das Instrument kritisch. Der Zugang zu den Programmen sei oft ungleich, die Zeit vor Ort in der Regel zu kurz, um wirklich anzukommen und sie hinterfragt das Menschenbild, dass durch solche Stipendien generiert wird: Die Atelierstipendien „erhöhen die Chance, sich einen nomadischen Habitus anzueignen und eine kosmopolitische Berufsbiographie zu konstruieren“, schreibt Glauser in ihrem Buch „Verordnete Entgrenzung. Kulturpolitik, Artist-in-Residence-Programme und die Praxis der Kunst“.

Pro und Contra Atelierstipendium: Während die Soziologin Andrea Glauser (links) diese Form der Kulturförderung kritisch sieht, betont Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, das kreative Potenzial des Formats. Bilder: Hochschule Luzern/Kulturstiftung des Kantons Thurgau

Die Wissenschaftlerin zweifelt auch daran, dass die Nähe zum kulturell Anderen zwangsläufig bessere Ergebnis bringt. Sie sieht eher Gefahren: „Die Über-Identifikation mit dem kulturell Anderen verfügt über dieses als Projektionsfläche und führt zu Festschreibungen von Unterscheidungen und Stereotypien.“ Sie warnt auch vor allzu romantisierenden Vorstellungen: Wer glaube, dass nur das wirklich sei, was man mit eigenen Augen gesehen hat, der laufe Gefahr ein naives Weltbild zu entwickeln: „Das Anliegen der Horizonterweiterung wie auch das Ziel, singuläre Perspektiven zu generieren, die den Besonderheiten des Gegenstandes im Unterschied zu standardisierten Bildproduktionen gerecht werden, bleiben jenseits einer Reflexion der kulturpolitisch-künstlerischen Produktionsmittel notwendig eine unfreiwillig komisch anmutende Mission.“

Diskurs über das Förderinstrument? Gibt es so gut wie nicht

Was sie aber besonders schwierig findet, ist der mangelnde Diskurs über das Format an sich. Es gebe ein regelrechtes „Bollwerk gegen Hinterfragungen“. Und: „Die Kulturbeauftragten lokaler Förderinstitutionen, die vergleichsweise intensiv mit Kunstschaffenden im Austausch sind und über aktuelle oder potenzielle Probleme am besten informiert sein dürften, haben teilweise die Tendenz, das Bestehende vornehmlich zu verteidigen und Kritik gar nicht erst aufkommen zu lassen.“ Deshalb plädiert Andrea Glauser dafür, Förderinstrumente wie Atelierstipendien viel stärker auf seine Voraussetzungen und Konsequenzen hin zu befragen.

Diese Kritik teilt der Musiker Niculin Janett nicht. Er war 2015 für drei Monate mit dem gemeinsamen Atelierstipendium von Kulturstiftung und Kulturamt in New York (für thurgaukultur.ch schrieb er damals einen Blog). Seine Bilanz dieser Zeit: „Es war die vielleicht beste und vor allem fokussierteste Zeit meines Lebens bis jetzt.“ Das hat natürlich viel mit der Stadt zu tun: „Die Energie der Stadt hat mich umgehauen. Und der Jazz lebt dort extrem intensiv“, erklärt der 28-Jährige. Vor Ort habe er viel Saxophon geübt und Konzerte besucht. Zudem war er mit der Vorbereitung und Umsetzung eines Studio-Albums beschäftigt. Das klappte in New York auch deshalb besser, weil es ihm viel leichter falle, sich über längere Zeit auf sein Instrument zu konzentrieren, wenn er in einem Übungsraum weit weg von Zuhause sei. Über die Frage, was ihm in der Zeit besonders gefallen habe, muss er nicht lange nachdenken: Finanziell sorgenfrei leben zu können, ohne sich Gedanken um den nächsten Geldjob machen zu müssen, das sei schon befreiend gewesen: „Aufstehen, etwas essen, dann ab in den Bunker und tüfteln. Am Abend an ein Konzert und sich inspirieren lassen. Oder einfach mal zwei Tage nichts tun und sinnieren. Das gefiel mir sehr“, sagt der Musiker. Unterm Strich sei es aber eben nicht nur eine gesponserte Auszeit gewesen, sondern die Zeit habe ihn auch künstlerisch weitergebracht: „Nach meiner Rückkehr war mir klarer, was mir meine Musik bedeutet und wohin sie führen soll. Ich hatte ein besseres Bild von mir selbst in meiner Musik.“ 

Selfie mit Grossem Apfel: Niculin Janett in der Stadt die niemals schläft.

Selfie mit Grossem Apfel: Niculin Janett in der Stadt, die niemals schläft. Bild: privat

 

Atelierstipendien im Überblick

Das Belgrad-Stipendium der Kulturstiftung des Kantons Thurgau findet auch 2019 statt. Die neue Ausschreibung läuft noch bis Ende Mai. Alle Infos zu den Bewerbungsmodalitäten: http://www.thurgaukultur.ch/magazin/3468/  

Einblicke in die Wohnung in Belgrad. Bilder: Kulturstiftung des Kantons Thurgau

 

Die nächste Ausschreibung für das Stipendium in New York erfolgt Ende 2018 für einen Aufenthalt in New York City im 2. Halbjahr 2019. Es wird gemeinsam von Kulturamt und Kulturstiftung angeboten. Infos zu dem Stipendium gibt es hier (https://kulturamt.tg.ch/foerderung/ateliers.html/1900) und hier (http://www.kulturstiftung.ch/home/ )

 

Das Atelierstipendium der visarte.ost in Paris: In der Cité international des arts in Paris verfügt die visarte.ost über ein Atelier, das im Zweijahresturnus je 4 Monate pro Jahr vergeben wird. Das Nutzungsrecht der visarte.ost läuft bis ins jahr 2060. Alle Infos hierzu: https://www.visarteost.ch/information/atelierstipendium.php 

 

Auch die Stiftung Pro Helvetia unterhält verschiedene Ateliers auf der Welt:  https://prohelvetia.ch/de/dossier/artists-in-residence/  

 

Einen Überblick über sämtliche Atelierstipendien von Schweizer Institutionen gibt es hier: http://www.artistsinresidence.ch/studios-foreign/ 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kulturpolitik

Kommt vor in diesen Interessen

  • Debatte
  • Kulturförderung

Werbung

Frauenfeld ROCKT - jetzt bewerben!

Anmeldeschluss: 24. Juni 2023

BAND X OST - Jetzt anmelden!

Der grösste und wichtigste Nachwuchsmusiker/innen-Contest der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein geht in die achtzehnte Runde. Anmeldung bis 3. September 2023.

kklick Kulturvermittlung Ostschweiz

Ausschreibung Mandate der Kantone AR, GL, SG & TG (2024 bis 2027). Mehr dazu hier...

Ähnliche Beiträge

Kulturpolitik

Die Rückeroberung des Sees

TKB-Projekte, Teil 6: In Romanshorn soll ein 400 Meter langer Steg mit Plattform entstehen. Auch Jazzkonzerte und Open-Air-Kino könnten dort stattfinden. mehr

Kulturpolitik

Ein Schloss als Gemeinschaftsprojekt

TKB-Projekte, Teil 4: Die Luxburg in Egnach soll zu einem Hotel und Kultur- sowie Tagungsveranstaltungsort umgebaut werden. Die TKB-Millionen könnten das Projekt mit 1 Million Franken beschleunigen. mehr

Kulturpolitik

Ein Schaufelraddampfer für den Untersee

Der Verein „Pro Dampfer“ will mit einem nachhaltig betriebenen Schaufelraddampfer den Untersee befahren. Mit den Geldern der „TKB-Millionen“ könnte der Verein seinem Ziel näherkommen. mehr