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von János Stefan Buchwardt, 17.03.2023

Kommen und Gehen

Kommen und Gehen
Aufnahme von Ernst Thoma aus der Serie «Colours of Delhi» in Claudia Rüeggs Publikation «Delhi erkunden in Gesprächen und Randnotizen», Zürich 2013 | © János Stefan Buchwardt

#Lieblingsstücke, Teil 25: Arrangierte Filmaufnahmen aus der Megacity Delhi werden dem Experimentalmusiker und Videokünstler Ernst Thoma zur glänzenden Reflexion von Zeit und Wahrnehmung. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Was zu Ernst Thoma einfällt? Elektronische Musik, Sounddesign, Multimedia-Verfahren. Auch wenn (nicht nur) der Thurgau den im Jahr 2020 verstorbenen Künstler stets hochzuschätzen wusste, die Frage, ob sein Name, trotz Lob und Preis, nicht bald einmal vergessen sein wird, muss sich stellen. Meine Antwort darauf lautet: Besser nicht.

Wo Stichworte wie «Interaktivität von Bild und Ton» oder «Gestaltung von Klangräumen» abstrakt bleiben, lässt sich anhand eines aussergewöhnlichen Werks herausheben, was die eigentliche Güte des Künstlers ausmacht. Die Videoinstallation «Colors of Delhi / Shyama Prasad Mukherji Marg» von 2013/2015 fängt die Grundsubstanz eines Eins- und Allesseins ein und begeistert über verblüffend eingesetzte Subtilität und Tiefgründigkeit.

Bild unserer Zeit

Dass die für das Kunstmuseum Thurgau tätige Ankaufskommission die jährlich aus dem Lotteriefonds gesprochenen hunderttausend Franken für dergleichen einsetzt, mag tatsächlich mehr als ein sachlich wie emotional gesprochenes Dankeschön verdienen. Der Kanton schafft selbstbewusst Bestes an, um die bestehende Sammlung repräsentativ und im Hinblick auf zeitgenössische Kunstbegriffe zu erweitern.

Den Beweis zu führen, dass Ernst Thomas Film-Installation eines exotisch anmutenden Verkehrsflusses beispielgebend dafür ist, was gute Kunst aktuell heissen kann, ist gleichwohl bemühend: Die Arbeit spricht so prononciert für sich, dass Ergründendes den ihr eingeschriebenen handfesten Zauber zu verwässern droht. Aus der Lektüre auszusteigen, den entsprechenden Youtube-Link als ausreichend anzusehen, wäre also mehr als legitim?

 

Sinnlos und sinnhaft

Verstehenshilfen anzubieten, nicht zuletzt Einschätzungen vorzunehmen, ist als kulturvermittelnde Aufgabe nichtsdestominder Rechtfertigung genug, an dieser Stelle – und wie übrigens in diesem Medium auch schon einmal annonciert – kunstgerecht auszuholen. So vervollständigt der Artikel die vor einem Jahr angekündigte Kunstmuseumsserie zur Mitte April 2022 abgelaufenen Ausstellung: «Neue Kollektion – Kunst hier und jetzt».

Ernst Thomas «indisches» Werk darf als digitale und analoge Produktion von diskreten, gleichzeitig aber einschneidend elementaren Botschaften verstanden werden. Über ein bündig vermitteltes Hervorkehren der stillen Macht des Bildes inklusive triftig gestalteter Klanghinterlegungen kostet es die heraklitsche Formel «panta rhei» aus und lädt im Spiel zwischen kleinsten bedeutungstragenden Einheiten und multipel ausgereiften Sichtfeldern zu Zeitreisen und Lebenseinsichten ein.

 

Ausschnitte aus Ernst Thomas Video-Installation «Colors of Delhi / Shyama Prasad Mukherji Marg» von 2013/2015 | Bilder: János Stefan Buchwardt

Hellsichtiger Gestus

So verschlug es Thoma, zu Lebzeiten in Stein am Rhein wohnhaft und arbeitend, selbst einmal auf den indischen Subkontinent. Claudia Rüegg, die Frau an seiner Seite, als Pianistin, Musikdozentin und ehemalige Präsidentin der Kulturstiftung keine Unbekannte im Thurgau, bekleidete seit 2012 das Mandat des Aufbaus einer Musikschule in Delhi. Ernst Thoma begleitete sie für rund einen Monat dorthin, zog viel allein durch die Stadt, sog die Atmosphäre förmlich in sich auf, erinnert sie sich.

Was in Old Delhi an Rohmaterial entstand, Fotos und Filmmitschnitte von Strassenszenen, wurde später zum künstlerischen Zeugnis einer gerafften fremdländischen «Farbigkeit». Im Ausloten von Befremdlichkeiten lässt sich die Bewegung zum Mysterienhaften hin entdecken. Im Verbund von Präzisem und Vagem eröffnet sich die Reife des Gesichtsfeldes.

In solchem Kontext lässt sich die Installation «Colors of Delhi / Shyama Prasad Mukherji Marg» als traumwandlerische, von Unschärfen belebte Filmmontage begreifen. Während sie über ein Triptychon aus digitalen Bildschirmen abrollt, konstituiert sie eine schillernde Komposition zum Zeitbegriff und zur Wahrnehmung an sich.

 

Aufnahmen von Ernst Thoma aus der Serie «Colours of Delhi» in Claudia Rüeggs Publikation «Delhi erkunden in Gesprächen und Randnotizen», Zürich 2013 | Bilder: János Stefan Buchwardt

Unerschütterlicher Gleichmut

In knapp einer Viertelstunde gelingen dem Künstler vibrierende Befragungen des Seins. «Normales» Bildverständnis überführt er in fragmentarische Bewegungstrukturen. Partiturenhaft werden zeitversetzte und verlangsamte Bildfolgen einer unermüdlich belebten Verkehrsachse in Old Delhi, nämlich der betriebsame Strassenzug «Shyama Prasad Mukherji Marg», zum geschmeidig-ruhigen Panoramafluss aus Erinnerungen und besinnlichen Visionen umgeformt.

Surreal durchlaufen Personen und von ihnen bediente Vehikel die drei gerahmten Monitore. Westliches Verständnis linearer Zeit wird durch die unaufhörliche Abfolge von Fahrzeugen aller Art und Zeitalter in eine vom Hinduismus geprägte Betrachtungsweise des Kreislaufs überführt. Kontinuierliche Bewegungen des Hin-und-Zurücks gepaart mit Bildbrüchen tragen zum übersinnlichen Empfinden bei.

Mensch und Mobilität

Diese Ergriffenheit, die Thoma nicht nur in der «Colours of Delhi»-Arbeit fatal-elegant provoziert, weiss umgehend zu überfallen und zu gefallen. Der hier eigens unterlegte, am Strassenlärm angelehnte elektronische Soundtrack, in den auch verfremdete Originaltöne einflossen, tut ein Übriges, das Erlebnis hin zu einem geheimnisvollen Wahrnehmungswandel abzurunden.

Personen und Mobilität mutieren zur Metapher für den Weltenlauf, für ein Strömen, aber auch Innehalten, das Begriffe wie Endlosigkeit oder Äon nahelegt. Claudia Rüegg weist darauf hin, dass Menschen im Werk ihres Mannes nur selten auftauchen. In Old Delhi aber wimmle es nur so von ihnen. Das Aufeinanderprallen verschiedener Zeiten und die unglaubliche Dichte des Geschehens einzufangen, habe Ernst interessiert.

 

Gellend und unaufgeregt

Wo Ernst Thoma Alltagsszenerien zu Farb- und Welterlebnissen erhebt, unverbrüchlich und bewegt, wollen gerade auch seine Arbeiten aus dem Umfeld der Reise nach Indien Auge wie Ohr schärfen. Verwegen sich erneuernd, sich formal überlagernd – die für sein Werk typische Synthese aus Askese und Überfluss wird ihm zum einzigartigen Spiel:

Wuchtig und unaufdringlich bewegt er sich in atemberaubendem Gleichgewicht zwischen bedrohlichem Wachtraum und einer betörenden urbanen Komposition. Von einem «Lieblingsstück» zu sprechen, entspräche wohl nur einem Teil der Wertschätzung, die das Bravourstück verdient.

Sinn und Sinnlichkeit irdischen Tuns bleiben bei Thoma alles andere als auf der Strecke. Parallel geführt münden existenzielle Manie und banale Routine unter seinen Händen in einen Zustand rätselhafter Ausgewogenheit und Gleichmut. Da war einer unter uns, der auf der Fragilität der Gedankenströme zu surfen wusste und dabei intuitiv und fruchtbar rückkoppelte und erdete.

Vorzeigekunst der Gegenwart

Wäre ein ständiger kantonaler Thoma-Ausstellungsraum nicht eine willkommene Bereicherung des Blicks auf verfügbare Vorzeigekunst der Gegenwart? Auf beispielhaftes Können, das Lautstarkes und Demütiges in genau der Schwebe hält, die von unverrückbarer Eindringlichkeit zeugt? Auf einen, der die Waage hält, Homogenes in sich zusammenfallen zu lassen, um gleichzeitig Bruchstückhaftes magisch anmutend zu neuen Einheiten zu überformen?

 

 

Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst

In unserer Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?

 

Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.

 

Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch , bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.

 

Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!

 

Mehr #Lieblingsstücke im Dossier: Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Bereits erschienene Teile der Serie sind gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden.

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