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von János Stefan Buchwardt, 29.03.2018

Nichts als Kirschblüten

Nichts als Kirschblüten
Originalton Esther van der Bie: «Kunst ist für mich eine über die Sinne erfahrbare Form von Philosophieren und Reflektieren. Im besten Fall verleitet sie dazu, sich wohlig auf’s Glatteis führen zu lassen, die leise Irritation wissend zu geniessen.» | © Esther van der Bie

Neben einer Fotoinstallation mit dem Titel «Raumkoordinaten» besitzt das Kunstmuseum Thurgau inzwischen eine weitere mehrteilige Arbeit von Esther van der Bie. Unsere Fünferreihe über neue Kunstankäufe begleitet die aktuelle Präsentation des Museums und widmet sich für dieses Mal der hinzugekommenen Bildserie der Fotografin und Zeichenlehrerin.

Esther van der Bies Bildkompositionen mit dem Titel «After Hiroshige» arbeiten mit einem Dagegenhalten. Der populäre auswärtige Farbholzschnitt kontrastiert mit ihren eigenen Aufnahmen vom traditionellen Kirschblütenfest aus dem heutigen Japan. Auf der einen Seite Farbfotografien, andererseits sogenannte Ukyio-e-Drucke aus dem Japan des 19. Jahrhunderts. Letztere zeugen vom bunten – wörtlich übersetzt – Treiben einer fliessenden Welt und spiegeln das Lebensgefühl eines grossen Teils der Bevölkerung insbesondere im damaligen Tokio wider.

Das Kunstmuseum Thurgau präsentiert nun vier Arbeiten aus der Hand der 1962 in Arbon geborenen und dort aufgewachsenen Fotografin. Ihr reizvolles Konzept, heutige Reisebilder kolorierten Originalholzschnitten von Utagawa Hiroshige gegenüberzustellen, vervollkommnete Freund Zufall. «Bei knapp 40 Fotografien», so erläutert sie, «zerstörte beziehungsweise transformierte ein Fehler bei der Datenübertragung einen Teil des Bildes. Diese ‹Fehlstellen› führten zu einer formalen Annäherung an die Drucke des Ukyo-e mit ihren grafischen Elementen.»

Originalton Esther van der Bie: «Ich begann, passend zu meinen Bildern, über einen Zeitraum von 2 Jahren hinweg Drucke von Hiroshige und seinen Zeitgenossen auf Auktionen zu ersteigern. Die eigentliche Produktion war mit 2 Wochen relativ schnell abgeschlossen.»Originalton Esther van der Bie: «Ich begann, passend zu meinen Bildern, über einen Zeitraum von 2 Jahren hinweg Drucke von Hiroshige und seinen Zeitgenossen auf Auktionen zu ersteigern. Die eigentliche Produktion war mit 2 Wochen relativ schnell abgeschlossen.» Bild: János Stefan Buchwardt

Dialog über Jahrhunderte hinweg

Die als Unikat angelegten modernen Momentaufnahmen einer in Rosarot getauchten fernen Inselnation korrespondieren somit mit einem Massenprodukt des 19. Jahrhunderts, das in seiner Exotik gerade auch auf die europäische Kunst abfärben konnte. So hatte Hiroshige als einer der wichtigen stilbildenden Meister seines Faches massgeblich Einfluss auf okzidentale Kunstrichtungen. Jetzt spielt van der Bie ihrerseits sowohl mit der Dokumentation von Kulturen als auch mit formalen und inhaltlichen Positionen über ganze 170 Jahre hinweg.

Ihr bereite die Fühlungnahme mit Wahrnehmung und Interpretation – so spricht der analytische Mensch, der in ihr stecke – ein grosses Vergnügen, das sie gerne mit anderen teilt. Welche konkreten relevanten Überlegungen ruft nun aber ihr Brückenschlag hervor? Stellvertretend für seine Besucherschaft sinniert beispielsweise der Museumsdirektor Markus Landert: Gibt es die Möglichkeit, (sich) von naiver Schönheitserfahrung ein Bild zu machen? Wie überhaupt konstruieren wir unsere Welt vis-à-vis des Fremden? Was ist uns eigen, was uns unvertraut?

Originalton Markus Landert: «Obwohl unsere Welt endlich ist und es etwas Unbekanntes gar nicht mehr geben kann, konstruieren wir uns eine Fremde, um in der Gegenüberstellung schliesslich unser Eigenbild zu kultivieren.»Originalton Markus Landert: «Obwohl unsere Welt endlich ist und es etwas Unbekanntes gar nicht mehr geben kann, konstruieren wir uns eine Fremde, um in der Gegenüberstellung schliesslich unser Eigenbild zu kultivieren.» Bild: zVg Kunstmuseum Thurgau

Irritationsaufgabe der Kunst

Die Serie «After Hiroshige», die in einen grösseren Werkkomplex rund um Japan eingebettet ist, kennt Vergleichsgrössen verschiedener Provenienz, die benannt werden können. Bei einer Bildanalyse müssen das Kombinatorische und das Gegensätzliche in Betracht gezogen werden: die Gegenüberstellung von Fotografie, Druck und Grafik, von altem und neuem Bild, von Vorstellungen von (schöner) Landschaft et cetera. Der besondere Stellenwert der Bildtafeln rechtfertigt sich wohl genau über solche mehrschichtigen Reflexionsangebote.

Epochemachende Kunst muss sich heutzutage auf Irritationsaufgaben zurückziehen. Darauf berufen sich etwa die angesprochenen Bildfehler in van der Bies Fotografien. Diese befremdlichen Irregularitäten, die an unserem Vertrauen auf das Foto als Realitätsabbild an sich kratzt, auch die generelle Unsicherheit, was hier eigentlich den Kunstcharakter ausmacht, die Fotografie oder das ganze Ensemble samt Holzschnitt, das erst macht die persönliche Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk anregend und wertvoll zugleich.

Originalton Esther van der Bie: «Die Vorstellung davon, was denn ein gutes Bild sei, nährt sich im allgemeinen aus dem vorhandenen kulturell überformten Bilderpool und wird häufig geprägt von Idealisierungen beziehungsweise Wiederholungen aus Bekanntem. Die Sujets, in ihrer Banalität, unterlaufen diesen Anspruch.»Originalton Esther van der Bie: «Die Vorstellung davon, was denn ein gutes Bild sei, nährt sich im allgemeinen aus dem vorhandenen kulturell überformten Bilderpool und wird häufig geprägt von Idealisierungen beziehungsweise Wiederholungen aus Bekanntem. Die Sujets, in ihrer Banalität, unterlaufen diesen Anspruch.» Bild: zVg Kunstmuseum Thurgau

Plädoyer für Intuition

Ob eine intellektuelle Aufschlüsselung über Sprache der richtige Weg ist, das Auge für die spezifischen Implikationen eines aktuellen Kunstwerks zu öffnen, bleibt dahingestelt. Zumindest als Künstlerin bekundet Esther van der Bie Mühe damit, den Entstehungshergang eigener Arbeiten darzustellen, käme das doch einem für sie «unnatürlichen Skelettieren des Prozesses» gleich. Darauf angesprochen, was sie dem Museumsbesucher mitgeben mag, antwortet sie lapidar: «Diese Frage stellt sich einem Pfarrer oder einem Lehrbeauftragten.»

Also steht man vor ihren Arbeiten, wechselt mit dem Blick hin und her und überlegt, ob der Mensch schlechthin in der Lage ist, sich Bilder und Vorstellungen zu machen, ohne sich auf den kulturell anerzogenen Bildervorrat im Hinterkopf abzustützen. Die Aufschaltung von Intuition sagt uns schliesslich, dass Esther van der Bies Kunst einfach auch schön ist. Festgezurrte Auslegungsprinzipien widersprechen der Lebendigkeit des Ausdrucks. Kirschblüten gehören zur Kategorie der Anmut. Ihr Rosaweiss versprüht intuitives Potenzial zu Sinneinsichten. 

Originalton Esther van der Bie: «Es gehört zur Grundstruktur des Menschen, sich ein Bild von allem zu machen. Dass dieser Vorgang jedoch auf Prämissen basiert und nicht im inhaltsleeren Raum erfolgt, ist Untersuchungs- wie auch Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeiten.»Originalton Esther van der Bie: «Es gehört zur Grundstruktur des Menschen, sich ein Bild von allem zu machen. Dass dieser Vorgang jedoch auf Prämissen basiert und nicht im inhaltsleeren Raum erfolgt, ist Untersuchungs- wie auch Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeiten.» Bild: János Stefan Buchwardt

Interviewer: Auf welche Erkenntnis sind sie inzwischen selber gestossen? Van der Bie: «Dass das Kozo-Papier – die Finalisierung der Fotografien auf japanischem Kozo-Papier nähert diese an die japanischen Drucke an – sehr stark auf Feuchtigkeitsveränderungen reagiert.»Interviewer: Auf welche Erkenntnis sind sie inzwischen selber gestossen? Van der Bie: «Dass das Kozo-Papier – die Finalisierung der Fotografien auf japanischem Kozo-Papier nähert diese an die japanischen Drucke an – sehr stark auf Feuchtigkeitsveränderungen reagiert.» Bild: János Stefan Buchwardt

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Links zu Esther van der Bie:

http://www.esthervanderbie.ch 

https://www.pasquart.ch/event/esther-van-der-bie/ 

Unsere Serie

Teil 1 unserer Serie "Neue Kunst in der Kartause" über das Werk «Terra incognita» von Herbert Kopainig können Sie hier lesen: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3529/   

Teil 2 widmet sich dem Künstler-Duo huber.huber (Reto und Markus Huber) mit ihren Regenbogensteinen und ihrem «Prozess des Veschwindens». https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3539/ 

Teil 4: Eine anspielungsreiche Bildtafel von Matthias Bosshart: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3558/   

Teil 5: Die Videoarbeit «Astronauten» von Sarah Hugentobler https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3567 

Wer über die Ankäufe entscheidet 

Die Sammlung des Kunstmuseums Thurgau wächst ständig. Seit 2012 gibt es zusätzlich zum ordentlichen Ankaufsbudget einen Kredit über 100.000 Franken aus dem Lotteriefonds für Ankäufe, über dessen Verwendung eine Kommission entscheidet. Diese setzt sich zusammen aus Katharina Ammann, Abteilungsleiterin beim Schweizerischen Institut für Kunstgeschichte, Alex Hanimann, Künstler, und Hans Jörg Höhener, Präsident der Kulturkommission Thurgau. In der Ausstellung «Neue Kollektion – Die Sammlung wächst» gibt das Kunstmuseum Thurgau noch bis zum 22. April 2018 einen Überblick über die Ankäufe der letzten drei Jahre. Anhand der Ausstellung lässt sich trefflich diskutieren, was denn heute gute und zukunftsträchtige Kunst sei.

 

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