von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 23.04.2018
Die Doppelmoral der Künstler
Kunst prangert gerne gesellschaftliche Missstände an. Aber wie sieht es mit den Missständen im Kulturbetrieb aus? Der tiefe Fall von Chris Dercon an der Volksbühne Berlin zeigt: Die Revoluzzer auf der Bühne sind in Wahrheit die Autokraten im Alltag
Man denkt ja leicht, in Kulturbetrieben wie Theatern oder Museen gehe es besonders human und freundlich zu. Wer sich tagtäglich mit den Dramen der Welt beschäftigt, Unterdrückungsmechanismen aufdeckt, Ungerechtigkeiten entlarvt und das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses predigt, der sollte mit derlei Dingen doch auch recht versiert im eigenen Alltag sein. Tatsächlich ist es dann aber doch ein bisschen anders. Nur wenige andere Betriebe sind oft so autoritär und streng hierarchisch gegliedert wie zum Beispiel Theater.
Das lässt sich gerade sehr schön in Berlin beobachten. Gemeinsame Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und RBB zeigen, wie die Berufung des Museumsmanns Chris Dercon zum Intendanten die renommierte Volksbühne ziemlich ruiniert hat. Und nicht nur das: Die detaillierte Dokumentation der Journalisten offenbart auch wieder einmal, wie rüde der Ton an Schauspielhäusern sein kann. Liest man die verschiedenen Aussagen der Beteiligten und wie herabwürdigend dort übereinander gesprochen wurde (vor allem von den Dercon-Gegnern über Dercon und sein Team), dann fragt man sich schon, wie man abends auf der Bühne gegen Ignoranz, Borniertheit und Tyrannei anspielen kann, um dann tags drauf jenseits der Bühne selbst mindestens so tyrannisch, borniert und ignorant zu sein. Selbst grosse Geister wie René Pollesch, Claus Peymann oder Frank Castorf tragen offenbar den Kleingeist tief in ihrem Herzen. Nicht, dass Chris Dercon alles richtig gemacht hätte an der Volksbühne, aber man würde doch von gebildeten Menschen, wie den eben genannten, ein Mindestmass an Anstand erwarten.
Wie kann man Strukturen bekämpfen und sie gleichzeitig reproduzieren?
Egal, in Berlin ist die Geschichte nun gelaufen. Aber vielleicht lässt sich daraus ja was lernen. Zum Beispiel, dass eine Offenheit gegenüber etwas, das man möglicherweise selbst auch nicht so doll findet, konstruktiver wäre als gleich alles abzulehnen. Oder, dass es auch ganz lässig wäre, sich zumindest mal entspannt die Argumente des Gegenüber anzuhören, ohne gleich in Angriffsstellung zu gehen. Das wäre doch der erste Schritt zu einem zivilen Umgang miteinander. Stattdessen passiert in Kulturbetrieben aber allzuoft das hier: Strukturen und Wahrnehmungsmuster, die vordergründig bekämpft werden sollen, werden in Wahrheit viel zu oft reproduziert. Ganz nach dem Motto: Autoritäre System sind nur so lange zu bekämpfen bis man selbst der Autokrat ist. Mal ehrlich: Wie soll man solche Künstler noch ernst nehmen?
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