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von Brigitta Hochuli, 31.10.2017

Absturz ohne Tiefgang

Absturz ohne Tiefgang
Andrea Gerster (li) und Rebecca C. Schnyder bei der Präsentation des neuen Romans vor der Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur (GdSL) in der Hauptpost St. Gallen. | © Leandra Gerster

„Alex und Nelli“ ist der sechste Roman der Thurgauer Autorin Andrea Gerster (58). Es ist die spannende Geschichte eines Abstürzenden und der Suche nach ihm. Nicht zum Schaden der Erzählung bleibt psychologischer Tiefgang an der Oberfläche, die Schuldfrage auch.

Von Brigitta Hochuli

1. Teil

Alexander Steiner schrumpft. Nicht nur körperlich, sondern auch in seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Jaguarfahrer, Architekt und Lebenspartner von Nelli Vetterli. Statt frühmorgens auf hohe Berge zu wandern, übernachtet er in der Tiefgarage. Angst baut sich auf: Es ist die Rede von Panikattacken, Galgenliedern, Lügen. Er hat Schuld an zwei Todesfällen, zunehmend ist „in Griffnähe immer ein Glas Wein“. Er landet bei den Randständigen im Stadtpark, deutlich erkennbar St. Gallen. Aus Alexander wird Alex.

2. Teil

Die Kindheit als Adoptivsohn vermögender Eltern war gut, aber eng. Von der Tragödie, die er als Kleinkind erlebt hatte, weiss er nichts. Nelli, die Psychologin, macht seinen Fall zu ihrem Forschungsprojekt. Nach seinem Verschwinden sucht sie den obdachlosen Flaschensammler in Berlin. Alex, nun Ale, wechselt ständig die Schlafplätze, flieht nach einem Überfall aus dem Spital. Nelli ergeht sich in Tagträumen vom abgetriebenen Kind. Dann reist Ale zurück in die Schweiz. Nelli hinter ihm her. „Wir müssen reden.“

3. Teil

Es kommt, wie es kommen muss. Der verlorene Sohn kehrt zur totgeglaubten Adoptivmutter ins Gartenhaus zurück, Nelli gebiert das Kind eines anderen. Drei Jahre später begegnet das Mädchen Melody dem Drehorgelspieler Ale. Es hat wunderschöne Hände, seine hässlichen stecken wie früher in Handschuhen aus Ziegenleder. Den „Fall“ Alexander Steiner beendet Nelli Vetterli in einem Buch mit einem vieldeutig offenen Satz über das - Glück.

*

Andrea Gerster ist eine fantasievolle Geschichtenerfinderin mit einer filmischen Stärke. Präzis benannte Orte und wiederkehrende Bilder wie etwa ein Loch in der Strumpfhose verstärken diesen Eindruck. Der Absturz des Protagonisten verbildlicht sich in Jaguar und Drehorgel. Die seelische Entwicklung denkt man sich dazu. Psychologie ist zwar der Beruf der Protagonistin, aber nicht das Erzählprinzip.

Sie sei keine sonderlich stringente Erzählerin, hüpfe gerne hin und her, sagt Andrea Gerster über ihre Arbeitsweise. Etwas mehr Stringenz würde dem Roman aber guttun. Im langen mittleren Teil mäandert zuweilen die Leserführung. Tagträume irritieren, Figuren werden eingeführt und verlieren sich. Trotzdem liest sich das Buch in einem Zug. Gut aufgebaut ist es vorallem am Anfang. Hier kommt Spannung - gestisch durchdrungen - auch sprachlich zum Ausdruck.

Der Roman sei eine Tragikomödie, schreibt der Verlag. Tragisch sind der Suizid des Geschäftspartners von Alex und der Unfalltod einer Fussgängerin, dramatisch war das Auffinden des Dreijährigen neben der toten Mutter. Das alles sowie die Absturzkarriere bleibt an der Oberfläche des Romans ohne störenden, erklärenden Tiefgang. Nichts führt zur klassischen Katharsis. Die Arbeit muss die Leserin schon selber leisten. Und das ist gut so. Komisch ist es aber nicht!

 

Alex und Nelli


Roman
192 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag € 19.90, sFr. 24.

ISBN 978 3 85787 483 3
Umschlagbild: Nicola Schaller

 

Video: Andrea Gerster liest aus "Alex und Nelli"

 

Andrea Gerster – Alex und Nelli from Solothurner Literaturtage on Vimeo.

www.andreagerster.ch

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